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Margos Spuren

Margos Spuren

Titel: Margos Spuren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Green
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er wegen seiner Besessenheit ein Narr ist. Andererseits ist auch etwas tragisch Heroisches daran, diese Schlacht, die zum Scheitern verurteilt ist, bis zum bitteren Ende auszufechten. Ist Ahabs Hoffnung Wahnsinn, oder ist sie letztlich das, was es ausmacht, ein Mensch zu sein?« Ich schrieb so viel mit, wie ich konnte, und merkte, dass ich den Aufsatz über Moby Dick auch schreiben könnte, ohne das Buch je gelesen zu haben. Bei Dr. Holdens Ausführungen ging mir auf, dass sie wirklich ungewöhnlich belesen war. Und sie hatte gesagt, dass sie Whitman mochte. Nach dem Klingeln nahm ich Grashalme aus dem Rucksack, und dann packte ich ganz langsam meine Sachen, während die anderen nach Hause oder zu ihren Nachmittagsprogrammen stürzten. Jemand bat um eine Verlängerung für eine bereits verspätete Arbeit, und ich wartete, bis er ging.
    »Da ist ja mein Lieblings-Whitman-Leser«, sagte Dr. Holden.
    Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Kennen Sie Margo Roth Spiegelman?«, fragte ich.
    Sie setzte sich an das Lehrerpult und bedeutete mir, mich zu ihr zu setzen. »Ich hatte sie nie im Unterricht«, sagte sie, »aber ich habe viel von ihr gehört. Und ich weiß, dass sie verschwunden ist.«
    »Sie hat mir das Buch hier hinterlassen, bevor sie … also, bevor sie verschwand.« Ich gab ihr das Buch, und sie begann langsam zu blättern. »Ich habe viel über die unterstrichenen Zeilen nachgedacht. Am Ende von ›Lied auf mich selbst‹ hat sie lauter Stellen markiert, wo es ums Sterben geht. Z.B. : ›Wenn du mich wiederhaben willst, suche mich unter deinen Schuhsohlen.‹«
    »Sie hat dir das hier hinterlassen«, wiederholte Frau Dr. Holden leise.
    »Ja«, sagte ich.
    Sie blätterte wieder zurück und tippte mit dem Fingernagel auf die grün markierte Stelle. »Und was ist das mit den Türpfosten? Das ist ein großer Moment in dem Gedicht, als Whitman … ich meine, man fühlt richtig, wie er ruft : ›Mach die Tür auf! Reiß die ganze Tür raus!‹«
    »Sie hat einen Zettel in der Türzarge für mich versteckt.«
    Dr. Holden lachte. »Oh. Sehr schlau. Aber es ist ein so großes Gedicht, dass es schade wäre, wenn man es nur buchstäblich liest. Und sie scheint es ziemlich düster aufgefasst zu haben, dabei ist es eigentlich ein durch und durch positiver Text. Es geht um die Vernetztheit allen Lebens, darum, dass wir uns alle ein und dieselben Wurzeln teilen, wie das Gras.«
    »Aber wenn Sie sich die angestrichenen Stellen ansehen, dann klingt es fast wie ein Abschiedsbrief«, sagte ich.
    Dr. Holden las die letzten Verse noch einmal, dann sah sie mich an. »Es wäre ein großer Fehler, aus diesem Gedicht Hoffnungslosigkeit herauszulesen. Ich hoffe, dass das nicht der Fall ist, Quentin. Wenn du es im Ganzen liest, kannst du gar nicht anders als zu dem Schluss kommen, dass das Leben heilig und wertvoll ist. Aber wer weiß. Vielleicht hat sie nur das gesehen, was sie sehen wollte. Auf diese Art lesen wir Gedichte oft. Aber wenn es so wäre, hätte sie vollkommen missverstanden, was Whitman von ihr wollte.«
    »Und das wäre?«
    Sie klappte das Buch zu und sah mich mit einem Blick an, dem ich nicht standhalten konnte. »Was hältst du davon?«
    »Ich weiß es nicht.« Ich starrte den Stapel korrigierter Aufsätze an, der auf ihrem Tisch lag. »Ich habe ein paarmal versucht es ganz zu lesen, aber ich bin nicht weit gekommen. Hauptsächlich lese ich die Stellen, die sie unterstrichen hat. Ich lese es, um Margo zu verstehen, nicht um Whitman zu verstehen.«
    Sie griff nach einem Bleistift und schrieb etwas auf die Rückseite eines Briefumschlags. »Warte, das möchte ich aufschreiben.«
    »Was?«
    »Was du gerade gesagt hast«, sagte sie.
    »Warum?«
    »Weil ich glaube, dass es genau das ist, was Whitman will. Dass du ›Lied auf mich selbst‹ nicht nur als Gedicht siehst, sondern als Weg, einander zu verstehen, als Weg unser aller Verbundenheit und gegenseitige Abhängigkeit zu erkennen. Als Weg zu Margo. Aber damit du dahinterkommst, musst du es erst mal als Gedicht lesen, fürchte ich, und nicht nur einzelne Fragmente auf der Suche nach versteckten Botschaften. Ich glaube, es gibt interessante Parallelen zwischen dem Mann, der ›Lied auf mich selbst‹ geschrieben hat, und Margo Roth Spiegelman – das wilde Charisma und die Wanderlust. Aber ein Gedicht funktioniert nicht, wenn du nur Teile liest.«
    »Okay. Danke«, sagte ich. Ich nahm das Buch und stand auf. Danach ging es mir auch nicht besser.
     
    Am Nachmittag ließ

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