Margos Spuren
deckt sich zu, der Rest der Teppichrolle ist ihr Kissen, und so schläft sie. Aber warum? Was war hier besser als zu Hause? Und wenn es ihr hier so gut gefiel, warum war sie dann nicht mehr da? Das waren die Dinge, die ich mir nicht vorstellen konnte, und ich merkte, dass ich sie mir deshalb nicht vorstellen konnte, weil ich Margo nicht kannte. Ich wusste, wie sie roch, und ich wusste, wie sie war, wenn wir zusammen waren, und ich wusste, wie sie war, wenn sie mit anderen zusammen war, und ich wusste, dass sie auf Mountain Dew stand und auf Abenteuer und auf melodramatische Gesten, und ich wusste, dass sie lustig war und schlau und irgendwie in allem intensiver als wir anderen. Aber ich wusste nicht, was sie hierhergeführt hatte, was sie hier hielt oder warum sie wieder gegangen war. Ich wusste nicht, warum sie Tausende von Platten besaß und niemandem erzählte, dass sie gerne Musik hörte. Ich wusste nicht, was sie nachts in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers tat, wenn das Rollo unten war.
Und vielleicht war es das, was ich zuerst tun musste. Ich musste rausfinden, wie Margo war, wenn sie nicht wie Margo war.
Eine Weile lag ich mit der nach Margo riechenden Wolldecke da und starrte an die Decke. Durch ein Loch im Dach konnte ich einen Streifen des Spätnachmittagshimmels sehen, wie ein Stück strahlend blau gestrichene Leinwand. Es war ein perfekter Ort zum Schlafen : Nachts konnte man die Sterne sehen, ohne nass zu werden, wenn es regnete.
Irgendwann rief ich meine Eltern an, um Bescheid zu sagen, dass alles in Ordnung war. Mein Vater war dran, und ich sagte ihm, wir wären gerade auf dem Weg, Radar und Angela abzuholen, und dass ich bei Ben übernachten würde. Er sagte, dass ich nicht zu viel trinken sollte, und ich versprach es ihm, und er sagte, er sei stolz auf mich, weil ich zum Schulball ging, und ich fragte mich, ob er auch stolz wäre, wenn er wüsste, was ich wirklich tat.
Es war langweilig. Ich meine, wenn man sich mal an die Ratten und das unheimliche Knarren in den Balken gewöhnt hatte, war nichts zu tun . Kein Internet, kein Fernsehen, keine Musik. Sogar mir war langweilig, und deshalb wunderte ich mich wieder, dass Margo sich ausgerechnet diesen Ort ausgesucht hatte, denn Margo war mir immer wie ein Mensch mit einer sehr begrenzten Kapazität für Langeweile vorgekommen. Vielleicht stand sie auf Grunge? Unwahrscheinlich. Margo trug Designer-Jeans, wenn sie in SeaWorld einbrach.
Es war die mangelnde Ablenkung, die mich zum »Lied auf mich selbst« zurückbrachte, dem einzig sicheren Geschenk, das ich von ihr hatte. Im Schneidersitz setzte ich mich auf den fleckigen Betonboden unter das Loch in der Decke, so dass das Licht in mein Buch fiel. Und aus irgendeinem Grund schaffte ich endlich, es zu lesen.
Das Problem ist, dass das Gedicht so langsam anfängt – im Grunde ist der Großteil des Texts so etwas wie eine lange Einführung, aber dann, etwa in der neunzigsten Zeile, beginnt Whitman endlich eine Geschichte zu erzählen, und an dieser Stelle packte es mich. Whitman sitzt auf einer Wiese herum ( was er lottern nennt ), und dann :
Ein Kind sagt : Was ist das Gras?, und hält es mir mit vollen Händen hin;
Wie könnt’ ich dem Jungen antworten? … Ich weiß nicht besser, was es ist, als er.
Ich würde sagen, es ist die Flagge meiner Gesinnung,
aus hoffnungsvoll grünem Stoff gewoben.
Da war die Hoffnung, von der Dr. Holden gesprochen hatte – das Gras war eine Metapher für Whitmans Hoffnung. Aber das war noch nicht alles. Er fährt fort :
Oder ich würde sagen, es ist das Taschentuch des Herrn,
Ein duftendes Angebinde oder Souvenir, vorsätzlich hingeworfen.
Das Gras als Metapher für die Größe Gottes oder so etwas …
Oder ich würde sagen, das Gras ist selbst ein Kind …
Und kurz darauf :
Oder ich würde sagen, es ist eine einförmige Hieroglyphe
Und bedeutet : Sprießen in weiten wie in engen Regionen,
Wachsen unter Schwarzen wie unter Weißen.
Das Gras als Metapher für unsere Gleichheit und für das ursprüngliche Gefüge aller Lebewesen, wie Dr. Holden gesagt hatte. Und schließlich sagt er über das Gras :
Und jetzt scheint es mir wie das schöne,
ungeschnittene Haar der Gräber.
Also ist das Gras auch der Tod – es wächst aus unseren begrabenen Leichen.
Ich war verblüfft, wie viele Dinge das Gras gleichzeitig war. Das Gras war die Metapher für das Leben und für den Tod und für die
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