Margos Spuren
Gleichheit und für die Verbundenheit und für Kinder und für Gott und für die Hoffnung. Welche dieser Deutungen die Moral des Gedichts war, falls es so etwas gab, war mir noch immer nicht klar. Doch als ich über das Gras und seine unterschiedlichen Deutungen nachdachte, musste ich an all die Bilder denken, die ich von Margo hatte, die richtigen und die falschen. Auch von Margo gab es viele Deutungen. Bisher wollte ich vor allem wissen, was aus ihr geworden war, doch jetzt, als ich versuchte die Vielfältigkeit von Whitmans Gras zu verstehen, den Geruch ihrer Decke in meiner Nase, wurde mir klar, dass die wichtigste Frage war, nach wem ich suchte. Wenn es auf die Frage »Was ist das Gras?« so viele Antworten gab, dachte ich, musste es bei der Frage »Wer ist Margo Roth Spiegelman?« erst recht so sein. Wie eine Metapher, die durch ihre Allgegenwart unerklärbar geworden ist, ließen die Spuren, die sie mir hinterlassen hatte, Raum für endlose Interpretationen, für unendliche Variationen von Margo.
Ich musste sie eingrenzen und kam zu dem Schluss, dass es hier Dinge geben musste, die ich falsch sah oder gar nicht sah. Am liebsten hätte ich das Dach abgerissen, damit Licht hereinkam und ich alles sah statt immer nur einzelne Stellen im Taschenlampenkegel. Ich legte Margos Decke weg und rief so laut, dass alle Ratten es hören konnten : »ICH WERDE HIER ETWAS FINDEN!«
Ich durchsuchte noch einmal alle Schreibtische im Büro, aber es schien mir immer klarer, dass Margo nur den Tisch mit dem Nagellack in der Schublade und dem Kalenderblatt von Juni benutzt hatte.
Dann kroch ich wieder durch das Loch in die Bibliothek, wo ich die verlassenen Regale durchging. Ich suchte jedes Fach nach staubfreien Mustern ab, die Margos Anwesenheit verraten hätten, aber ich fand keine. Dann glitt meine Taschenlampe über etwas ganz oben auf einem Regal in der Ecke, gleich neben dem verbarrikadierten Schaufenster. Es war ein Buch.
Das Buch hieß Amerika unterwegs : Ihr Reiseführer und stammte aus dem Jahr 1998, als die Läden hier längst verlassen waren. Mit der Taschenlampe zwischen Ohr und Schulter blätterte ich es durch. Darin standen Hunderte absurder Sehenswürdigkeiten, vom weltgrößten Garnknäuel in Darwin, Minnesota, bis zur weltgrößten Briefmarkenkugel in Omaha, Nebraska. Scheinbar willkürlich hatte jemand Eselsohren in das Buch gemacht. Besonders staubig war es nicht. Vielleicht war SeaWorld nur die erste Station einer wilden Abenteuerfahrt gewesen. Ja. Das war vorstellbar. Das klang nach Margo. Irgendwie war sie auf diesen Ort gestoßen, und dann hatte sie hier ihre Vorräte gesammelt, ein oder zwei Nächte übernachtet, und irgendwann hatte sie sich auf den Weg gemacht. Ich konnte sie mir vorstellen, wie sie von einer Touristenattraktion zur nächsten tingelte.
Während das Licht, das von draußen hereinfiel, schwächer wurde, fand ich weitere Bücher in anderen Regalen. Lonely Planet Nepal, Legendäre Routen durch Kanada, Mit dem Auto durch die USA, Die Bahamas : Der Insel-Reiseführer, Reisenotizen Bhutan . Ich konnte keinen Zusammenhang erkennen, außer dass alles Reiseführer waren und nach dem Schließen der Ladenzeile erschienen waren. Ich klemmte mir die Taschenlampe unters Kinn, stapelte die Bücher zu einem Stoß, der mir von der Hüfte bis zur Brust reichte, und schleppte sie in den leeren Raum mit dem Teppich, den ich Schlafzimmer nannte.
Und so kam es, dass ich den Schulball tatsächlich mit Margo verbrachte, wenn auch nicht so wie in meinen Träumen. Statt dass wir zusammen die Party sprengten, saß ich auf ihrem aufgerollten Teppich, mit ihrer alten Decke auf den Knien, stöberte mit der Taschenlampe in ihren Reiseführern oder saß ganz still da und lauschte im Dunkeln den Zikaden, die überall zirpten.
Vielleicht hatte sie hier gesessen, in der kakophonischen Dunkelheit, und eine Art von Verzweiflung hatte sie gepackt, und vielleicht fand sie es unmöglich, den Gedanken an den Tod rückgängig zu machen. Das war vorstellbar.
Doch auch das war vorstellbar : Margo kaufte auf Flohmärkten alle Reiseführer, die sie für einen Vierteldollar oder weniger erstehen konnte. Und dann kam sie hierher – noch bevor sie abgehauen war –, um, vor neugierigen Blicken geschützt, ihre Bücher zu lesen. Um sich Ziele auszusuchen. Ja . Sie war auf Achse, immer unterwegs und abgetaucht – ein Ballon, der am Himmel vorüberzog, mit ewigem Rückenwind, Hunderte von Kilometern täglich
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