Maria, Mord und Mandelplätzchen
nicht vor wie eine dumme Frau. Aber spätestens als er einen Blick in den Geldbeutel warf, den sie völlig offen herumliegen ließ, während sie nach ihrer Mütze suchte, kam er zu dem Schluss, dass er sie wohl falsch eingeschätzt hatte. Bargeld fand er, mehr Bargeld, als eine alte Dame im Haus haben sollte. Daneben die Bankkarte und – kaum zu fassen – der Zettel mit der Geheimnummer. Der Anblick beruhigte Stefan ungemein. Kein Grund zur Panik, sagte er sich, überhaupt kein Grund zur Panik.
Das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitete, als sie gemeinsam durch die stillen Straßen der Südstadt marschierten, war unbehaglich. Ebenso verzweifelt wie vergeblich dachte Stefan über ein mögliches Gesprächsthema nach. Langsam wurde die Umgebung profaner, die Straßen breiter und lauter. Als sie schließlich das Rheinufer erreichten, blieb Gundula auf der Promenade stehen. Sie schaute hinab in den Fluss, der sich eisig und unerbittlich zu ihren Füßen wälzte.
»Hier«, sagte sie, »hier ist es passiert. Hier ist mein Mann ertrunken. Fast fünfundzwanzig Jahre ist es her.«
»Unglaublich!«, rief Stefan. Er merkte, dass er wohl etwas zu enthusiastisch geklungen hatte, überwältigt von der Dankbarkeit, endlich ein Thema gefunden zu haben. »Das ist ein unglaublicher Zufall«, erklärte er rasch und setzte eine adäquat betrübte Miene auf. »Ich bin auch mal fast ertrunken. Als Kind. Ich weiß, wie das ist. Schrecklich. Obwohl ich keine wirkliche Erinnerung habe, Trauma und so, aber ich kann in kein Schwimmbad gehen, von anderen Gewässern ganz zu schweigen!«
»Das ist ja furchtbar«, sagte Gundula. Sie klang ein wenig distanziert. Vermutlich, weil das Thema sie in melancholische Stimmung versetzte. Aber das war kein Problem, jetzt nicht mehr, denn der Damm war gebrochen, und Stefan fand zu seiner gewohnten Form zurück. Während sie die Promenade in Richtung Innenstadt entlangschlenderten, lenkte er sie mit allerhand lustigen Anekdoten aus seinem Leben von ihren trüben Gedanken ab.
Als sie die steil aufragende Backsteinmauer des Alten Zoll erreichten, hakte er sie unter, damit sie auf der schneeglatten Treppe, die hinauf in Richtung Stadt führte, nicht stürzte. Er behielt die vertraute Berührung bei, als sie oben waren, geleitete sie galant zur Fußgängerzone. Beim Anblick der weihnachtlichen Festbeleuchtung in der Innenstadt begann dann auch sie, wieder zu strahlen.
Es war wie eine Droge, vertraute sie Stefan an, als sie erneut am Glühweinstand haltmachten und sich innerlich ein wenig aufwärmten. Die Vorweihnachtszeit, die Lichter, die geschmückten Schaufenster. Menschen, dick eingemummt gegen die Kälte, die durch die Fußgängerzone eilten, Geschenke einkauften, sich dann am Glühweinstand trafen oder Reibekuchen aßen. Und die Musik, überall die Musik, Flöten und Kinderchöre, Trompeten und Pauken. Gundula liebte diese Mischung aus Freude und Erwartung, die wie die winzigen Schneeflocken durch die Luft wirbelte. Während sie sprach, warf sie ihm Blicke zu, die er nicht recht deuten konnte, die ihm aber trotzdem gefielen.
Als sie zur Villa zurückkehrten, war es schon dunkel.
Gundula öffnete eine Flasche Wein und zündete ein Feuer im Kamin an. Stefan genoss die Wärme. Er fühlte sich sicher und geborgen. Entspannt starrte er in die Flammen, angenehm schläfrig, während sie von ihrem Mann erzählte. Rüdiger hatte der geheißen, und er hatte immer alles richtig gemacht. Sie redete, und Stefans Gedanken gingen auf Wanderschaft. Er dachte darüber nach, wie gern er einen Kamin hätte. Träumte von dem Haus, das er einmal bewohnen würde. Ein Haus wie dieses, aber irgendwo im Süden. Er wollte den Wein, der würzig und schwer über seine Zunge rollte, auch wachsen sehen. Wollte einen Garten, in dem ein Orangenbaum stand.
Gundula versuchte, sich darüber klarzuwerden, wie es nun weitergehen sollte.
Sie hatte mit angesehen, wie im Lauf des Tages aus dem bleichen, stillen Nervenbündel, das ihr am Frühstückstisch gegenübergesessen hatte, langsam wieder der Stefan wurde, mit dem sie den vergangenen Abend verbracht hatte. Immer wieder musterte sie ihren Besucher heimlich, fragte sich, was sie denn schon von ihm wusste. Von seinen Talenten, seinen Wünschen, seinen Schwächen und Geheimnissen. Nicht genug, dachte sie immer wieder, noch lange nicht genug, um zu wissen, was für ein Mensch er wirklich war. Es war durchaus möglich, dass sie sich in ihm getäuscht hatte. Andererseits
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