Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
anhören. Heiner Gerold sei ein Mörder. Mörder, Mörder, Mööööörder!
Alles, was an Miriams Stiefvater bewundert und gemocht worden war, war plötzlich schlecht. Sein Humor, seine Unbefangenheit und seine Vorliebe für Geselligkeit wurden in den Tagen nach den vier Beerdigungen auf dem hässlichen neuen Friedhof, der nur eine Straße weit von ihrem Haus weg war, zu Werkzeugen des Teufels. Männer und Frauen, die vorher immer gerne bei ihnen zu Gast waren und Heiners beliebte Grillwürstchen beklatschten, warfen ihm jetzt mit Leidenschaft Verantwortungslosigkeit, Fahrlässigkeit und einen Hang zum Alkohol vor. Erst wurde er abgeholt und verhört, dann aus Mangel an konkreten Beweisen entlassen, aber schließlich selbst von seinen besten Freunden nach Strich und Faden fertiggemacht. Das E-Werk hat ihm unter fadenscheinigen Gründen gekündigt, und seine einzige Schwester hat ihm nahegelegt, die Gegend zu verlassen, da seine Familie nicht mehr sicher sei. Tatsächlich bekam Hannah wieder ihre hektischen roten Flecken im Gesicht, begann nächtelang schlaflos im Haus herumzustreifen und musste schließlich für ein paar Tage zurück in die Klinik. Nur zur Beobachtung, hieß es, aber weder Carola noch Hannah trauten dieser Diagnose. So hatte es damals auch begonnen, als Hannah kurz nach Miriams Einschulung für Monate im Krankenhaus verschwand.
Dem toten Kaninchen im Garten folgten anonyme Drohbriefe, Päckchen mit Exkrementen sowie jede Menge Steine, die vorwiegend bei Nacht durch die Scheiben flogen, sodass Hannah vom sicheren Krankenhausbett ein Dauerabonnement beim Glaser vorschlug. Sie wollte dem verstummten Heiner damit ein Lachen entlocken. Vergeblich. Schweigend verzog Heiner sich von Hannahs Krankenhausbett in die einzige Raucherzone in dem hässlichen Bau aus Beton, der einem gigantischen Sarg ähnelte. Dabei waren sie so glücklich gewesen. Heiner war Hannahs Retter in der Not. Sie hatten sich genau in dieser Klinik kennen und lieben gelernt vor fünf Jahren, als Hannah ihre linke Brust an den Krebs verlor und ihren Töchtern am Bett die Geschichte der Amazonenkönigin vorlas. Heiners Frau lag in dem zweiten Bett in Hannahs Zimmer. Kinderlos und den Engeln versprochen, wie Hannah der kleinen Miriam flüsternd erklärt hatte, um taktvoll die Frage nach der goldenen Perücke zu beantworten, die auf dem Nachtisch lag. Während Heiners Frau ihre Reise in die schönere Welt antrat, hatte die Liebe aus den Überlebenden der Krankheit eine neue Familie geschmiedet. Hannah hatte sich durch Heiner reich gesegnet gefühlt. Was war schon eine schnöde Brust gegen einen ganzen neuen Vater und noch dazu einen, den Carola und Miriam von Anfang an mochten?
Grün. Endlich setzt sich das Taxi in Bewegung und entlässt Miriam aus ihrer gedanklichen Zwangsjacke. Endlich ein Aufatmen. Weg von der Enge, dem Grau des Krankenhauses der Vergangenheit, das letztendlich doch den Sargdeckel über Hannah zugeklappt hat, allerdings erst zwanzig Jahre später. Mit einer grünen Welle, die noch mehrere Ampeln lang anhält, beginnt Miriam sich zu entspannen. Eine kleine Hand schummelt sich in ihre.
»Wieder gut?«
Miriam muss schwer schlucken, als sie eine Angst in Anna-Sophies Augen erkennt, die auch ihr nur allzu bekannt war, als ihr leiblicher Vater Hannah und seine Töchter verlassen hatte. Fünf Jahre alt war Miriam damals. Nie wird sie vergessen, wie mutterseelenallein sie sich damals oft gefühlt hat. Tut sie das Gleiche jetzt ihrer kleinen Nichte an, die ohnehin schon so viel Verlust erlebt hat? Miriam streckt sofort ihre beiden Arme aus.
»Komm mal her zu mir, ganz nah und noch viel näher!«
Ganz eng zieht sie Anna-Sophie zu sich heran und legt ihren Arm um die bebenden Schultern. Fast so, als wäre es in ihrem eigenen Körper, spürt sie das aufgeregt schlagende Herz des kleinen Mädchens. Anna-Sophie muss Angst haben, auch noch den letzten Rest Sicherheit und Wärme in dieser Nacht zu verlieren, wenn Miriam sie jetzt nicht auffängt. Die Frage ist nur, wie man jemanden auffängt, wenn man selber noch nicht mal ein Bett für die Nacht hat. Miriam versucht es trotzdem.
»Es ist wieder gut zwischen uns, mein Schatz. Und wenn es zwischen uns wieder gut ist, dann wird ja vielleicht auch alles andere gut. Das dauert manchmal nur ein bisschen.«
»Wirklich? Dauert es bis Weihnachten, wenn das Baby kommt und ich mein Puppenhaus kriege?«
Miriam kann Anna-Sophies forschende Augen kaum ertragen, denn sie wissen beide, dass
Weitere Kostenlose Bücher