Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
gießen sollte, damit auch er aus der Welt geräumt wäre. Doch sich ohne ein Lied einfach so davonzumachen? Es musste ein Lied entstehen für einen Schnee, der in einem Kinderbett kleine Inseln von Tränen bildet, weil Joe damals nicht hat weinen können.
»Ich will wissen, ob man sich bei zwei Engeln auch zwei Sachen wünschen darf. Warum sagst du nichts?«
Anna-Sophies Frage reißt Joe aus seiner Erinnerung. Die Ampel ist immer noch rot. Die wohlgeformten weißen Engelsbeine gehen vor Joe auf dem Fußgängerübergang auf und ab, aber Joe findet gerade keine Worte. Hilflos zuckt er mit den Schultern. Kann man sich überhaupt etwas wünschen? Bene sieht zu Joe rüber, spürt die Anspannung des Cowboys, dessen Gesicht zu einem starren Lächeln verzogen ist, das mehr an eine Grimasse erinnert. Und damit seine Schwester ihre Frage nicht noch ein drittes Mal stellt, beantwortet er ihre Frage.
»Joe hat keine Lust, über deinen Schwachsinn nachzudenken. Aber wenn es so wichtig ist, na klar, zwei Engel, zwei Wünsche. Und jetzt nerv nicht weiter rum!«
Bene klingt autoritär, aber Anna-Sophie denkt nicht daran, sich so leicht abspeisen zu lassen.
»Na, gut! Wenn das wahr ist, dann wünsch ich mir erstens, dass die Mami noch heute wiederkommt!«
»Halt die Klappe!«
Benes Ton ist unnötig scharf, aber völlig wirkungslos, denn Anna-Sophie redet doppelt so schnell weiter.
»Und zweitens soll der Papa heute noch wiederkommen. Er soll mein Bett einfach wieder von der Straße nach oben tragen, und dann essen wir alle zusammen zu Abend. Der Joe soll auch mitkommen. Tante Miri macht Pfannkuchen, und wir spielen etwas zusammen. Gut?«
Jetzt antwortet niemand mehr.
Diese Ampel am Isartorplatz ist eine echte Zumutung. Wie oft hat Miriam sich über das endlose Rot geärgert, als sie Anna-Sophie noch von Haidhausen zu ihrer Ballettstunde in die Maxvorstadt gefahren hat. Das war damals, als sie die Stunden noch bezahlen konnte. Miriam war damals selber auch noch die stolze Besitzerin eines kleinen Autos mit Dresdner Kennzeichen, aber ohne Aussicht auf die Münchner Feinstaubplakette, was sie schließlich zum Verkauf gezwungen hat. Der endlose Strom der Fußgänger, die vor ihnen über die Ampel drängeln, will einfach nicht abreißen. Müde folgt Miriams Auge den billig gemachten Plastikflügeln der Zigarettenengel, die sich wie verlogene Hoffnungsträger in der Menge der Vergnügungssüchtigen treiben lassen. Mit ihren appetitlichen kleinen Schachteln versuchen die Mädchen, ein paar Dumme anzufixen, wahrscheinlich für einen Stundenlohn von fünf Euro. Endlich schaltet die Ampel auf Gelb, dann auf Grün. Wenn der Cowboy doch nur einfach aufs Gaspedal treten und hupen würde, könnten sie es in dieser Ampelphase vielleicht schaffen. Aber der Cowboy hat die Ruhe weg. Ohne das geringste Zeichen einer Emotion bleibt er gehorsam stehen, als die Ampel nur drei Wagen weiter zurück auf Gelb schaltet. Weiß er denn nicht, wie Miriam sich fühlt? Ahnt er nicht, dass in ihrer ohnehin brüchig gewebten Welt vorhin der letzte Faden gerissen ist? Nein, er ahnt nicht, was es bedeutet, weder Geld für eine Fahrkarte zurück nach Dresden noch irgendeine Perspektive in ihrer ehemaligen Heimatstadt zu haben. Sie hat dort bereits alles aufgebraucht, was Freunde ihr und den Kindern nach dem Unfall an Wohlwollen entgegengebracht haben. Wäre nur ihre Mutter noch am Leben. Damals, nachdem Miriams geliebter Stiefvater abgehauen war, weil er die Schande nicht ertragen hat, hatten die Nachbarn ihnen das Leben in dem Dresdner Vorort zur Hölle gemacht. Miriam weiß noch genau, wie es war, als Mama, Carola und sie zu dritt ihren Neuanfang planten. Miriam war erst dreizehn, aber bereits fast so groß wie jetzt. Carola war fünfzehn und hatte ihren ersten Freund, ein Lehrling bei einer Möbelspedition, der ihnen fast umsonst einen kleinen Umzugslaster organisiert hat. Als sie in die Grüne Straße neben der Dresdner Musikhochschule zogen, war Miriams Mama erst blutjunge vierunddreißig und voller Hoffnung auf ein neues Glück. Niemand konnte ihr ansehen, dass sie damals bereits krank war. Ihre Prothese trug sie unter einem speziellen Büstenhalter, der vollständig verbarg, worüber sie mit ihren Töchtern erst viel später sprechen wollte, wenn Miriam und Carola selbst erwachsene Frauen waren. Was für eine schöne Zeit es im Nachhinein war, als sie sich gegenseitig darin übertrumpften, wer das schönste Zimmer hatte. Drei winzige Zimmer waren es
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