Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
mit einer kleinen Küche und einem Bad ohne Fenster. Das Klo war so nah an der Wanne gebaut, dass man nur seitlich drauf sitzen konnte. Aber sie hatten eine Wanne! Und sie hatten einen ebenerdigen Balkon, auf dem Mama mit ihnen grillen durfte, wenn Miriam und Carola dafür der Hausmeisterin beim Treppenputzen halfen. Es war das erste Mal, dass Miriam ihre Mutter wirklich glücklich erlebte. All das, was in den beiden Ehen nicht sein durfte, hielt in der winzigen Weiberwohnung endlich Einzug. Es gab von morgens bis abends nur Musik, denn Mamas erste größere Anschaffung war ein damals extrem überteuerter Kassettenrekorder. Von Mamas meist nur mäßig begabten Gesangsschülerinnen wurde das Gerät regelmäßig ausgeborgt, um den Stil der Callas und anderer Operndiven zu kopieren. Es war eine Quelle nicht enden wollenden Lachens bei ihren Abendessen bei Kerzenschein auf ihrer Terrasse. Rot. Die verdammte Ampel ist immer noch rot. In dem Taxi wird es eng und enger. Miriams Monsterkugel beraubt ihre Lungenflügel von innen eines Großteils ihres Volumens, oder zumindest fühlt es sich gerade so an. Sie hat mit einem Mal das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Nur ruhig bleiben. Jetzt bloß keine Panik. Alles ist gut. Das Baby ist friedlich, und zur Abwechslung meldet sich nicht einmal Miriams Blase. Wahrscheinlich hat sie wieder viel zu wenig getrunken, und ihr ist deshalb nicht gut. Sie wird die ganze Nacht über ein Glas Wasser nach dem anderen in sich hineinschütten müssen, während sie wieder schlaflos durch den mit Fotos gepflasterten Flur von Carolas Wohnung tigert. Ach nein, dort wird sie ja heute nicht sein. Tatsächlich hat Miriam keine Ahnung, wo sie heute mit den beiden Kindern schlafen soll. Dabei ist es jetzt bereits kurz vor acht Uhr abends. Und was tut dieser verfluchte Taxler, um ihr zu helfen? Nichts! Der Mann starrt einfach vor sich hin, statt endlich etwas gegen dieses lähmende Schneckentempo zu tun, das Miriam an den Rand des Wahnsinns treibt. Noch nie hat sie Staus ertragen können. Und jetzt, sozusagen randvoll mit Baby, hat sie im Innen und im Außen Stau, was definitiv zu viel für ihre gebeutelte Seele ist. Es muss sofort etwas geschehen. Aber was? Miriam versucht verzweifelt, ihre Platzangst mit gezielter Atmung in den Griff zu bekommen. Es misslingt. Alles, was sie zustande bringt, sind Vignetten der Vergangenheit, Fragmente aus einem Glück, unwiederbringlich verloren wie Carola und ihre Mutter Hannah. Wie hat Hannah nur damals ihre Angst in den Griff bekommen, als die halbe Nachbarschaft wütend vor der Tür stand und lautstark verlangte, dass Miriams Stiefvater sich stellt? Steine hatten sie geschmissen, die lieben Nachbarn, faule Äpfel und Tomaten. Die Zwillinge, die drei Häuser weiter wohnten, hatten sich von hinten in den Garten geschlichen, das Tiergehege aufgemacht und Carolas Kaninchen freigelassen, während Miriam am Wohnzimmerfenster stand und sich die Seele aus dem Leib flennte, weil sie solche Angst hatte. Carola war viel mutiger gewesen. Miriam sieht sie noch vor sich, ihre wilde Schwester, wie sie den Fleischklopfer aus der Küchenschublade nahm und die hässlichen Zwillinge mit Indianergeheul damit aus dem Garten gejagt hat. Trotzdem hatte der Marder eins der Kaninchen erwischt. Sie hatten es in der folgenden Nacht begraben, und Hannah hatte ihm mit ihrer rauen Stimme zum Abschied ein Lied gesungen, während Heiner stumm dabeisaß und eine Zigarette nach der anderen rauchte. Das zweite Kaninchen blieb für immer verschwunden, und auch die angebliche Schuld von Miriams Stiefvater bleibt bis zum heutigen Tag ungeklärt. Seit Jahren hatte Heiner Gerold nichts anderes getan, als in Dresden und Umgebung die ausgefallenen Ampelanlagen wieder zum Laufen zu bringen, so wie seine beiden anderen Kollegen auch, die für das lokale E-Werk arbeiteten. Die Arbeit war für Heiner reine Routine. Er hatte sich nie einen Fehler zuschulden kommen lassen, und niemand wusste, wieso nach Heiners Wartung die Ampeln der Kreuzung vor der Metallverarbeitungsfabrik gleichzeitig auf Grün standen. Es war der schwerste Unfall, der je in dem Vorort stattgefunden hatte. Über die Hälfte der Todesopfer lebten in der direkten Nachbarschaft, insgesamt waren es vier. Miriam und Carola mussten hautnah miterleben, wie die Hetzjagd auf Heiner begann. Einen der verunglückten Männer kannte Miriam persönlich. Er war der Vater einer guten Freundin. Sie musste sich endlose Beschimpfungen in der Klasse
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