Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
nicht wissen, wohin.
SIEBTES KAPITEL
HOAM
Reich hatte die Schwangere Joe in ihrem Zorn genannt und damit intuitiv recht gehabt. Wirkliche Geldsorgen sind dem Musiker und Taxifahrer Joe Stadler völlig fremd. Unermesslich reich ist der Cowboy sogar, wenn er jeden Grashalm und jede Erdkrume mitrechnet, die seine Eltern als Bauern und Großgrundbesitzer im Chiemgau ihr Eigen nennen dürfen. Als Miriam mit den Kindern den Übungsraum verlassen hat, steigt in Joe eine Sehnsucht nach dem Land auf, wo er wird verarbeiten können, was er gerade erlebt hat. Hoam ist für Joe ein realer Ort, von dem viele Menschen ein Leben lang nur träumen können. Als einzigem Erben gehört ihm jede Menge echtes Land, auf dem echter Weizen sprießt und echte Kühe den Landbesitz von Generationen wiederkäuen. Für Joe ist das normal. Es war schon immer so. Die Äcker und das Weideland, das von seinen Eltern derzeit zur Bewirtschaftung an andere Bauern verpachtet wird, da die Stadlers sich im Alter verkleinern, ist ein Vermögen wert. Echte Alteingesessene sind Joes Eltern, mit einem ganzen Rucksack voller Erinnerungen, verbunden mit der heimatlichen Scholle. Joes Verankerung im bayerischen Land ist so tief und stabil wie die Wurzeln der ältesten Bäume auf dem Familienbesitz. Joes Mutter hat vergilbte Fotos aus Zeiten, in denen die Bauern im Chiemgau noch ihrem geliebten Monarchen huldigten. Königstreue waren die Stadlers. Einer von Joes Vorfahren mütterlicherseits hat auf dem berühmten Schloss Herrenchiemsee die Geige gespielt, wenn auch nur einen Sommer lang, denn der launische König Ludwig II. weilte nur wenige Tage auf seinem unvollendeten Inselschloss. Angeblich ärgerte er sich darüber, dass ihm das Geld ausgegangen war, dieses Traumschloss auch zu Ende zu bauen. Joe wusste bereits mit sechs Jahren, dass Geldmangel etwas ist, das es im Leben zu vermeiden gilt. Er hatte die alten Geschichten seines Großvaters mütterlicherseits geliebt. Als Kriegsversehrter mit nur einem Bein lebte Großvater Josef, nach dem Joe benannt wurde, bis zu seinem Tod auf dem Hof. Nach und nach hatte er seinem einzigen Enkel alles erzählt, was je in der Familie von Joes Mutter von Bedeutung war. Joes Mutter, Hildegard Seefeld, war der spätgeborene Sonnenschein eines Paares, das im Zweiten Weltkrieg drei Söhne verloren hatte. Es war eine grausame Zeit gewesen. Von der Familie blieben nach dem Krieg nur die kleine Hildegard, genannt Hilla, und ihre neun Jahre ältere Schwester Sigrun übrig. Sigrun galt als musikalisches Wunderkind. Auf dem Obersalzberg spielte sie in jungen Jahren dem Führer auf der traditionellen Zither vor, denn auf Musikalität waren die Bauern im Chiemgau besonders stolz. Zu Joes Familie gehören seit Generationen immer wieder Musiker, aber auch Lehrer, die nebenbei malten und Geschichten schrieben. In der Stube der Stadlers konnte man alte Bücher und Bilder bewundern, die aus dem neunzehnten und achtzehnten Jahrhundert stammten, doch durch die beiden Weltkriege hatte sich die männliche Nachkommenschaft reduziert. Nach dem Krieg konnte Joes Großvater Josef als Kriegsversehrter mit nur einem Bein den Hof ohne seine Söhne kaum noch bewirtschaften. Es war schwer, Hilfe zu bekommen, denn viele junge Männer aus der Umgebung waren gefallen oder in russischer Kriegsgefangenschaft. Bergauf ging es erst wieder, als sich Joes Mutter Hilla im zarten Alter von siebzehn Jahren in Joes Vater, Ernst Stadler, verliebte. Es war schwer, einen Mann zu finden, der standesgemäß war, denn ein Bräutigam für Hilla sollte eigentlich Ländereien mit in die Ehe bringen. Joes Vater Ernst hatte weder Stand noch Besitz, sondern ein schändliches Erbe zu tragen. Sein Vater war im letzten Kriegsjahr unehrenhaft an der Ostfront desertiert. Auf dem Bahnhof von Traunstein hatte ihn die örtliche Polizei gefasst und hingerichtet. Mit seiner schwangeren Mutter und der Großmutter musste Ernst im Alter von neun Jahren bei Nacht über die Berge nach Österreich fliehen, weil sie im Ort nicht mehr sicher waren. Zu einem Jesuitenkloster in Innsbruck wollten sie mit ihren wenigen Habseligkeiten, aber sie wurden von einem Sturm überrascht, und bei der Mutter setzten plötzlich die Wehen ein. Vier Tage drauf kam Ernst nur mit der Großmutter im Kloster an, die Augen vom Schock übernatürlich geweitet. Aber als Ernst zehn Jahre später nach dem Tod seiner Großmutter in den Chiemgau zurückkehrte, war er ein gut aussehender junger Mann, gebildet, tüchtig
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