Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
seines hohen Eisengehalts changiert der in den Bergen abgebaute Marmor bisweilen in tiefen Rottönen. Die gerade fertiggestellte Schule, die nicht allzu weit vom Königinnenturm steht, bietet als doppeltes Oktogon ebenfalls einen eindrucksvollen Anblick. Als Miriam sich dafür eingesetzt hatte, statt eines Oktogons ein Sechseck auszuprobieren, gab es beinahe einen Aufstand. Die Shambalesen sind Traditionalisten bis ins Mark. Ihre Gewänder leuchten in den immer gleichen Farben. Warmes Orange und Ocker, ab und zu ein Lila und natürlich das dunkle Rot, in dem sich nur höhere Würdenträger oder die verehrten Alten des Volkes öffentlich zeigen dürfen. Das ist schon immer so gewesen. Während Miriam den Menschen zuwinkt, glaubt sie einen kurzen Augenblick das lächelnde Gesicht ihrer Mutter in der Menge zu erkennen, doch dann ist Hannah wieder verschwunden, wahrscheinlich um eine ihrer zahllosen Pflichten wahrzunehmen. Hannah wollte keine Königinnenmutter im Turm sein, sondern hat es sich ausbedungen, auch in Miriams Shambala ein Mensch unter Menschen zu bleiben.
»Was jetzt, Miriam, steigst ein oder net? Ich wart nicht die ganze Nacht, und die Kinder müssen schlafen …«
Die Stimme des Cowboys will sie aus Shambala rauslocken, aber Miriam hält ihre Augen fest geschlossen. Sie denkt nicht daran, ihm freiwillig zu folgen, jetzt, wo sie sich endlich halbwegs entspannt hat.
»Hau ab!«, zischt sie feindselig.
»Bist jetzt völlig übergeschnappt?«
Unwillkürlich verfällt Joe in tiefstes Bayerisch.
»Mir wollen fahren, und du steigst jetzt ein!«
»Nein!«
Eine Millisekunde lang öffnet Miriam ihre Augen, nur um sie ganz schnell wieder zu schließen. Allein der Geruch des Cowboys, zur fortschreitenden Stunde durch das Bier im Übungsraum mit leichter Säuerlichkeit angereichert, irritiert ungefähr zweihundert Shambalesen. Schon gerät Miriams Traumwelt ins Wanken, und ungefähr die Hälfte von Miriams Untertanen beginnen sich zu zerstreuen. Die Kinder werden eilig von der Lehrerin weggeführt. Am Fuße ihres Turmes unterhält man sich beunruhigt, denn hier in Shambala löst der aufdringliche Geruch des Cowboys eindeutig eine Alarmstufe aus. Als Gegenmaßnahme redet Miriam von ihrem Königinnenturm aus hastig mit einigen Jasminbüschen, die am Ufer des kleinen Baches am Fuße des Oktogons wachsen. Die Blüten richten sich gehorsam nach oben. Miriam inhaliert tief, aber es will nicht gelingen. Der Biergeruch des Cowboys ist einfach zu stark. Sie wird etwas dagegen tun müssen, dass er sich immer noch im Wartehäuschen über sie beugt.
»Bitte, geh zurück ins Taxi. Ich komm dann.«
»Du sitzt jetzt hier schon a Viertelstund’!«
Seine Stimme kommt näher, und Miriam beginnt vor Schreck zu husten, denn zu dem Biergeruch gesellt sich jetzt noch fordernder männlicher Schweiß. Der Cowboy steht fast auf Tuchfühlung.
»Willst’ hier übernachten, oder was?«
»Vielleicht!«
Miriam öffnet ihre Augen immer noch nicht. Sie weiß, dass sein Anblick sie ganz aus Shambala zurückzwingen könnte, denn allein bei dem Gedanken an seine fragenden Augen rutscht Miriam mehrere Stockwerke in ihrem Turm nach unten. Ihre Wendeltreppe splittert an einer Stelle, und ein Geländer bricht weg. Sie stürzt ein weiteres Stockwerk tiefer, wo sie sich mit letzter Kraft in ihr elfenbeinfarbenes Königinnenschlafzimmer zurückzieht und den Schaden an Haut und Kleidung inspiziert. Ihr Lieblingskleid hat einen Riss, der von der Taille bis zum Knie reicht. Eine Menge blauer Flecken wird sie morgen haben. Sie wird später ihren Leibarzt holen lassen, doch zunächst muss sie sich endgültig vor diesem Cowboy in Sicherheit bringen, der immer weiter zu ihr vordringen will. Miriam dreht energisch den Schlüssel an ihrer Schlafzimmertür herum und atmet erleichtert auf. Jetzt kann sie niemand mehr stören. Nur leise muss sie sein, ganz leise, damit er sie nicht finden kann. Doch kaum will Miriam sich auf ihrem Diwan niederlassen, um sich endlich auszuruhen, schiebt sich eine Hand mit einem toten kleinen Kanarienvogel in ihr Gesichtsfeld.
»Tensing hat so schön gesungen! Warum hast du ihn getötet?«
Ihre Mutter Hannah steht in ihrem dunkelroten Gewand anklagend vor ihr. Viele Jahre ist es her, seit Miriam an diesen furchtbaren Moment gedacht hat, in dem ihre Kindheit zusammen mit ihrem Kanarienvogel starb. Die drei Kanarienvögel der Frauen in der Grünen Straße in Dresden hatten tibetische Namen, weil Hannah in ihrer Sinnsuche
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