Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
abendliches Glas Milch interessieren.
Miriam schmiegt sich an das schlafende Mädchen. Anna-Sophies regelmäßige Atemzüge zeigen, wie tief sie sich trotz allem in der neuen Umgebung entspannt hat. Bis auf ihren Atem in der Dunkelheit ist es völlig ruhig in den nächtlichen Bergen. Vor dem Fenster hat es erneut begonnen zu schneien, und die dicken Flocken bleiben nass und schwer auf den Streben im Glas hängen. Miriam versucht einzuschlafen, aber ihre Gedanken kehren zurück zu der Vertreibung aus ihrer Wohnung. Das Kinderbett auf der Straße, die Möbelpacker mit den achtlos in Kisten gestopften Sachen der Kinder, der Laster, in den all das reingeworfen wurde, was das Leben der beiden Kinder ausgemacht hatte. Die Fotoalben, die sorgfältig gehüteten Gegenstände der Eltern und Großeltern, all das war Nahrung für die Seele, um sich zu erinnern, warum man überhaupt auf diese Welt gekommen war. Der Staat wollte ausgerechnet aus diesen beiden kleinen Menschen Roboter machen, indem er alles abzutöten versuchte, was Bene und Anna-Sophie in die Wiege gelegt worden war. Es musste die zunehmende Wut gegen die Künstler und Musiker sein, lästiges Pack in den Augen vieler, die sich an die konservierte Computerkost aus dem Ausland gewöhnt haben. An der Entwicklung in den Schulen kann man es erleben, wo Musik und Kunst lang nicht mehr den Stellenwert von früher haben, sondern der Computer bereits die Kleinsten der Kleinen zu willigen Robotern dressiert. Es stimmt nicht, dass in Deutschland kein Krieg herrscht. Das Einschlagen auf die Armen und Schwachen hat bereits vor Jahren begonnen, und es gibt kein Entrinnen, vor allem nicht für eine alleinstehende Frau mit drei Kindern. Miriam würde weiter in die Armut rutschen. Es ist unausweichlich, und lediglich das Wann, Wo und Wie ist noch ungeklärt. Es kann ihr in diesem System gar nicht gelingen, ihre kleine Familie zusammenzuhalten, denn schleichend und grausam zerschneidet die Schere im Land die Adern einer Gemeinsamkeit, die beim Fall der Mauer noch in greifbarer Nähe schien. Das Geld war stärker geworden als der Anstand, die Ideale und vor allem die ganz normalen menschlichen Werte. Die verlässliche Vorstellung der sozialen Gerechtigkeit, mit der Carola und sie beim Schulabschluss ins Leben gegangen waren, hatte sich in eine poröse Wand verwandelt, hinter der Giergeister lauern. Aus den Kindern wollen sie machen, was in der neuen Welt gebraucht wird, solide Befehlsempfänger auf niedriger Einkommensbasis. Anna-Sophie wird vielleicht eine kleine Bankangestellte und Bene unter Umständen ein Gerichtsvollzieher, der selber eines Tages verarmte Familien auf die Straße setzt. Dabei sind diese Kinder prädestiniert fürs Künstlertum und ihre gebeutelten Seelen zerbrechlich wie Glas. Bei dem Gedanken daran, die Kleine und den Jungen aufgeben zu müssen, schnürt es Miriam den Hals zusammen. Nach ein paar Jahren bei verschiedenen Pflegefamilien würden sich Bene und Anna-Sophie vor allem daran erinnern, nach dem Tod ihrer Eltern von ihrer einzigen lebenden Verwandten aufgegeben worden zu sein, weil Miriam selber ein Kind bekommen hatte. Sie würden irgendwie überleben, auf der niedrigsten Stufe ihres Seins, ihr wahres Potenzial vergraben in gelegentlichen Träumen, oder vielleicht noch nicht einmal das. Manche Menschen, die schwer traumatisiert wurden, träumen nicht einmal mehr. Miriam dreht sich in dem Bett vorsichtig auf die andere Seite, damit Anna-Sophie nicht von ihrem Weinen wach wird. Aber auch wenn die Tränen Erleichterung bringen, bleibt ihre verfahrene Situation die gleiche. Miriam ist diesem grausamen System ohne Geld auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Die idyllische Stille lässt ihre negativen Gedanken umso lauter in ihrem Kopf dröhnen, denn vorhin in der Küche hat sie ein deutliches Ziehen gespürt. Dreimal hintereinander hatte der Bauch in Richtung Erde gedrängt, so als wollte er ihr mitteilen, dass nicht mehr viel Zeit bleibt. Die Hebamme hatte ihr nahegelegt, zu regeln, was zu regeln ist, damit die Kleine ein fertiges Nest hat. Das Nest für Miriams Kind! Ihr biologisches Bewusstsein denkt an nichts anderes. Diese Ferienwohnung im Nirgendwo hat ihr peinlicher Automatismus sofort gescannt. Die offene kleine Küchenzeile war perfekt. Dort würde sie für die größeren Kinder kochen, während das Baby schliefe. Bene und Anna-Sophie würden sich das zweite Zimmer teilen müssen, aber das würde für eine gewisse Zeit gut gehen. Das war also
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