Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
Blick, mit dem er Joe danach mustert, ist mehr als vernichtend. Joe versucht ein Lächeln, aber es misslingt kläglich.
»Warum genau musst du in die Küche?«, fragt der Junge noch einmal, diesmal mit deutlich verachtendem Unterton.
»Ich trinke abends immer noch eine Milch.« Etwas Klügeres fällt Joe im Moment nicht ein, aber Bene findet die Erklärung ausreichend, nickt und klopft bereits an die Küchentür.
Keine fünf Minuten später liefern sich der Junge und der Mann über den Küchentisch hinweg ein Duell der Blicke. Milch ist sonst nicht Joes abendliches Getränk, aber der Junge trinkt sein Glas in einem einzigen Zug leer und wischt sich den Milchbart ab.
»Der letzte Freund von Tante Miri war ein Idiot …«
Ein Testballon. Joe reagiert mit undefinierbarem Grunzen, aber Bene hat nicht vor, das Thema zu wechseln.
»… den Lehrer in Dresden meine ich, der das Baby gemacht hat, obwohl er gar keine Kinder mag. Kinder sind teuer und lästig, hat er gesagt.« Prüfend sieht Bene den Cowboy an.
»Wie ist es mit dir? Du magst doch Kinder, oder?«
»Hm. Ja. Vielleicht.«
Joe will den Jungen nicht ermutigen weiterzusprechen, aber Bene kommt gerade erst in Fahrt und sieht Joe provozierend an.
»Kinder sind eine ziemliche Herausforderung, hat mein Papa immer gesagt. Man braucht Platz, Zeit und natürlich auch Geld, denn die wenigsten Kinder verdienen bereits welches, außer sie sind Models oder Schauspieler. Aber ansonsten kosten Kinder nur, denn das Kindergeld reicht vorne und hinten nicht. Eine Mutter, die alleine ist, muss sie füttern und anziehen und vor allem gut auf sie aufpassen. Währenddessen kann die Mutter oft nur schlecht selber arbeiten, um genug Geld zu verdienen, und muss dann in Armut leben oder vom Staat. Aber auch das Geld reicht nie, und im Alter ist so eine Frau dann arm und lebt auf der Straße in einem Pappkarton. Also, wenn du mich fragst, ich bin ganz schön froh, dass ich mal ein Mann werde und keine Frau.«
Der Junge hat bei seiner Rede begonnen, sein leeres Milchglas zwischen seinen Händen auf der glatten Holzoberfläche des Tisches hin und her zu kicken. Er ist gut darin, aber es ist trotzdem nur eine Frage der Zeit, bis das Glas zu Bruch geht.
»Lass das!«
Joe hält das Glas fest. Der Junge beginnt zu lächeln. Es ist ein trauriges Lächeln, das Joe wehtut.
»Kinder nerven, nicht wahr?«
»Nein! Kinder sind bei uns hier Kinder. Die sollen so sein, wie sie sind, manchmal eben auch a bisserl nervig.« Und dann, nach einer Pause. »Ich hätt’ für mein Leben gern Kinder, je mehr, desto besser. Ich würd’ wollen, dass sie mich nerven, morgens, mittags und abends und sogar spät in der Nacht. Aber jetzt ist es Zeit fürs Bett. Du brauchst deinen Schlaf, wennst noch a bisserl wachsen willst, du Zwergerl.«
Ohne groß darüber nachzudenken, legt Joe bei seinen letzten Worten die Hand auf den Kopf des Jungen. Bene senkt den Blick und starrt auf die Maserung vom Holztisch, damit der Cowboy nicht sieht, wie elend ihm zumute ist, und kurz darauf ist ein verräterisches Schniefen zu hören. Erschrocken will Joe seine Hand von Benes Kopf wegziehen, als der Junge sagt: »Lass die Hand da … bitte.«
Der Junge rührt sich nicht von der Stelle, und Joe lässt seine Hand, wo sie ist. Lediglich ein vorsichtig tröstendes Streicheln erlaubt er sich. Da ist so viel Leid, und Joe ahnt, woran der Junge gerade denkt. Vater und Mutter auf einmal zu verlieren und nicht mehr zu wissen, wohin man gehört, ist für Joe undenkbar. Warm fühlt sich der Kopf des Jungen an. Joe sucht nach Worten, die die Gefühle beschreiben, die der leise weinende Junge gerade durchlebt, aber wahrscheinlich will der Junge gar nicht mitten in der Nacht mit einem Taxifahrer in einer fremden Küche über seinen Verlust reden. Doch da hat Joe sich getäuscht.
»Deine Hand sieht ein bisschen aus … wie seine.«
Mit vorsichtigem Lächeln nimmt der Junge Joes Hand von seinem Kopf und legt sie vor sich auf den Tisch, die Handfläche nach oben. Joe weiß nicht, wie ihm geschieht, aber schon hat sich Bene über seinen Handteller gebeugt.
»Ich kann aus der Hand lesen. Hat mir meine Großtante in Georgien beigebracht. Siehst du hier, diese Linie zeigt dein Herz.«
»Des is a totaler Schmarrn!«
Aber Joe zieht seine Hand nicht zurück, sondern beugt sich tief mit Bene zusammen über die zerfurchten Linien, froh, dem Jungen nah sein zu dürfen. Beide wissen, dass sie sich genauso wenig fürs Handlesen wie für ein
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