Mariana: Roman (German Edition)
wölbte sich die imposante Fassade des alten County Hall Gebäudes, und vor mir ragte die vertraute, hell angestrahlte Kuppel von St. Paul wie ein Leuchtfeuer in den Nachthimmel. Es war eine wunderbare Nacht, überraschend ruhig und recht mild, trotz der Feuchtigkeit. Ich ging weiter, an Cleopatra’s Needle mit den wachsamen Sphinxen vorbei, vorbei an der drohend aufragenden Masse von Somerset House und dem eher majestätischen Tor, das zum Temple und zu den Inns of Court führte.
Anfangs genoß ich das Gefühl des Alleinseins. Aber nach einigen Minuten machte meine weinselige Selbstzufriedenheit allmählich einem schleichenden, wachsamen Unbehagen Platz. Immerhin war es schon recht spät am Abend, und so schön es am Flußufer auch sein mochte, so war es doch nicht der beste Ort für eine Frau, um dort nachts allein spazierenzugehen. Ich beschleunigte meine Schritte, irgendwie beunruhigt. An der nächsten U-Bahn-Station, versprach ich mir selbst, würde ich hinuntersteigen. Für diese Nacht war ich genug gelaufen. Außerdem hatte ich etwas mehr getrunken, als ich sollte, und ich fühlte mich auf einmal furchtbar müde. Mein Gang wurde ein wenig schwankend, unsicher, und mein Kopf fühlte sich seltsam leicht an und war von einem merkwürdigen, klingenden Geräusch erfüllt.
Eine Minute später hatte ich den Plan, mit der U-Bahn zu fahren, völlig aufgegeben und schwenkte vom Flußufer ab, um nach einem Taxi zu suchen. Aber weit und breit war keines in Sicht, und je mehr ich in dem Gewirr von Straßen Ausschau hielt, desto mehr verirrte ich mich. Die Straßen verengten sich zuerst zu Sträßchen, dann zu Gassen, und wurden nach und nach immer düsterer und holpriger, während das Klingen in meinen Ohren ständig anschwoll. Nachdem ich ein paarmal die falsche Abzweigung genommen hatte, stieß ich schließlich auf eine Straße, die mir bekannt vorkam – eine verwinkelte Gasse mit Fachwerkhäusern, deren dichtaneinandergedrängte, überstehende oberste Stockwerke bemalt und mit Schnitzwerk versehen waren. Als ich an einem überdachten Hauseingang vorbeikam, trat ein kleiner, zerlumpter Junge daraus hervor und hielt eine Laterne in die Höhe. »Brauchen Sie Licht, Mistress?« fragte er hoffnungsvoll, aber ich schüttelte den Kopf und eilte weiter.
Etwas weiter die Straße hinunter hielt ich an einem der dichtgedrängten Häuser an und schlug mit dringlichem Klopfen an die Tür. Es schien lange zu dauern, bevor auf mein Klopfen schließlich eine kleine Frau mittleren Alters mit freundlichen Augen und unscheinbarem Gesicht erschien. Sie war im Nachthemd und hatte zum Schutz gegen die Nachtkühle einen Schal um Kopf und Schultern gewickelt.
Als sie mich sah, weiteten sich ihre Augen vor Erstaunen. »Mein Kind! Was machst du dort draußen zu nachtschlafener Zeit? Komm herein … komm herein und wärme dich auf!«
Ich wurde praktisch über die Schwelle gezogen und vor ein knisterndes Feuer gesetzt. Ich starrte in die Flammen, von einer hohlen Kälte erfüllt, die die Wärme des Feuers nicht erreichen konnte.
»Meine Mutter ist krank«, sagte ich.
Die Frau sah mich an, und zwischen uns entstand ein schmerzliches Verstehen, das sprechender war als Worte.
»Seit wann?« fragte sie.
»Es kam ganz plötzlich.« Meine Stimme klang hölzern. »Beim Abendessen. Jetzt hat sie schon Fieber und erkennt mich nicht mehr. Die Bediensteten haben mich aus dem Haus geschickt.«
»Daran haben sie recht getan. Du kannst nicht dorthin zurückkehren.« Sie ließ sich schwerfällig neben mir nieder. »Aber hier kannst du auch nicht bleiben. Meine Nachbarn fürchten die Krankheit zu sehr. Sie würden es nicht zulassen.« Sie schwieg lange und dachte nach. »Du wirst aufs Land gehen«, sagte sie endlich. »Zum älteren Bruder deiner Mutter.«
»Zu meinem Onkel Jabez?« Ich biß mir auf die Lippe.
Sie kannte den Grund meiner Befürchtungen. »Er ist zwar nicht wie dein Onkel John, Gott sei seiner lieben Seele gnädig. Aber er ist hochgeachtet und ein ehrlicher Mann. Ich werde dir morgen einen Platz in der Kutsche besorgen. Hast du nichts von zu Hause mitgenommen?«
Ich schüttelte den Kopf, und sie runzelte die Stirn. »Du wirst ein paar Kleider brauchen. Meine Tochter Ellen hat ungefähr die gleiche Größe wie du. Sie dürfte etwas Passendes haben.«
Sie erhob sich von ihrem Hocker und eilte geschäftig auf die schmale Treppe zu. Ich rührte mich in schwachem Protest.
»Tante Mary …«.
»Mariana.« Ihre Stimme klang fest. »Es
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