Mariana: Roman (German Edition)
etwas schicke, zum Beweis, daß ich noch eifrig dabei bin. Das muß das Landleben sein«, beschwerte ich mich und streckte meinen Rücken. »Es saugt meine ganze Energie auf.«
»Wie ich es dir gesagt habe«, nickte sie. »Es gibt hier keinen Streß, der einen auf Trab hält. Nicht wie in London. In einem Ort wie Exbury passiert nie etwas.«
Das würde ich nicht unbedingt sagen, dachte ich einige Minuten später, als ich langsam die Straße zu meinem Haus hinuntertrottete, vorbei an grünenden Hecken und nach Erde duftenden Feldern. Nein, dachte ich, in mich hineinlächelnd, ich würde nicht sagen, daß hier nie etwas passiert …
Ein Schaf, vielleicht ein abtrünniges Mitglied von Iains Herde, war auf die Straße gelaufen und geschäftig dabei, einen jungen, blühenden Busch zu verzehren. Es hob seinen Kopf, als ich näherkam, und starrte mich aus sanften, gleichgültigen Augen an. Es hätte ein perfektes Werbemotiv für Viviens Bild vom idyllischen Landleben abgegeben – lethargisch und einfach und todlangweilig.
»Du täuschst mich nicht«, sagte ich zu ihm.
Während des letzten Monats war so viel mit mir passiert, daß ich wohl kaum mit der Wimper gezuckt hätte, wenn das Tier sich aufgerichtet und mir geantwortet hätte. Aber das tat es nicht. Es stand einfach nur da und fuhr fort zu kauen und mich mit diesem ausdruckslosen, hochnäsigen Schafsblick anzusehen, als ob es mich für bekloppt hielte.
Es regnete den ganzen nächsten Tag – ein andauernder, deprimierender Regen, der unermüdlich gegen das Fenster meines kleinen Ateliers prasselte. Immerhin war ich dankbar, daß es nichts gab, was mich von der Arbeit ablenken konnte – kein sanft lockender Windhauch, gesättigt mit dem Duft von Frühlingsblumen, keine zwitschernden Vögel, die mich mit ihrem Gesang aus dem Haus riefen. Es gab nur den Regen und den grauen Himmel und einen garstigen Wind, der an den Fensterscheiben rüttelte und die Bäume erschauern ließ.
Als es Zeit war zum Abendessen, hatte ich alle Skizzen für das koreanische Märchen koloriert, die Seiten aus dickem Papier strotzten vor kaleidoskopartigen Aquarelltönen. Ich wusch mit verkrampften und schmerzenden Händen meine Pinsel aus, räumte die Farben weg und ging hinunter in die Küche, wo ich mir eine Mahlzeit aus kaltem Fleisch und Käse bereitete. Dann trug ich meinen Tee in die Bibliothek, wählte einen Lieblingskrimi aus und ließ mich im Ledersessel zu einer entspannenden abendlichen Lesestunde nieder. Ich war eingeschlafen, bevor der Detektiv die Leiche gefunden hatte.
Ich erwachte kurz vor Morgengrauen mit einem steifen Hals und dem fast schmerzhaften Kältegefühl, das dem Sonnenaufgang vorausgeht. Der Himmel war noch dunkel, und das nach Westen blickende Fenster warf mein eigenes Spiegelbild zurück, ein unheimlicher Schemen im Licht der kleinen Leselampe neben dem Sessel. Meine Tasse stand leer auf dem Tisch zu meiner Seite. Ich nahm sie, stand unsicher auf und ging in die Küche zurück. Ich sehnte mich nach der tröstlichen Wärme des pfeifenden Kessels und einer frischen Kanne Tee.
Während ich dort saß, auf die Stille des Hauses lauschte und meine Hände an der dampfenden Tasse wärmte, kam mir plötzlich die Idee. Seit vergangenem Samstag hatte mich der Gedanke beunruhigt, daß ich keine Kontrolle über das hatte, was mit mir geschah – daß ich zu jeder Zeit und an jedem Ort in der Zeit zurückgeworfen werden könnte und beispielsweise durch das Dorf streifen könnte, wo mich dann jeder sehen, ich aber niemanden erkennen würde. Das Problem bestand darin, daß die »Rückblenden« willkürlich eintraten, ohne Vorwarnung, und mir keine Chance ließen, mich auf das Erlebnis vorzubereiten.
Was aber, wenn ich mich vorbereiten konnte ? Wenn ich einen Weg finden könnte, die Rückblenden selbst auszulösen, nämlich dann, wann ich es wollte, und sie zu unterdrücken, wenn ich sie nicht wollte? Wenn ich es tatsächlich mit Erinnerungen zu tun hatte – mit Szenen, die mein eigener Geist hervorbrachte –, dann sollte ich auch in der Lage sein, mich auf irgendeine Weise auf Wunsch zu »erinnern«.
Es war zumindest einen Versuch wert, sagte ich mir. Und jetzt war gerade der perfekte Zeitpunkt für ein solches Experiment. Ich befand mich in der sicheren Umgebung meines eigenen Hauses, unterstützt von der trügerischen Kühnheit, die der Zustand des Halbwachseins manchmal mit sich bringt, und war für den Fall, daß ich mich doch aus dem Haus bewegen sollte,
Weitere Kostenlose Bücher