Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
Speichel über die Stelle, auf die ich ihn hingewiesen hatte. Ich hörte, dass er schwer atmete.
„Zieh die Lampe näher heran, Marie! Praecum “, buchstabierte er. „ Praecum ist da eingemeißelt.“
„Und das heißt?“
„Möglicherweise Bekanntmachung oder so was ähnliches. Nun, man könnte auch übersetzen ´Hier genau` oder ´da besonders` - oder auch ´Verherrlichung` ...? Wirklich seltsam, der Doppelpfeil, der den Spruch trennt, weist genau auf dieses Wort und auf das Tier, wie du es nennst. Ist es ein kleiner Krake, oder was meinst du, Marie?“
„Ich weiß es nicht, es könnte auch eine Spinne sein, Bérenger. Sieh doch, das Tier hat acht Beine! Es muss eine Spinne sein. Sieben kann man gut erkennen ... das achte scheint fast völlig verwittert, aber wenn man darüber fährt – spürst du es? -, dann kann man seine ehemalige Kontur noch immer ertasten. Igitt, hat man früher Spinnen verherrlicht?“
„Rede keinen Unsinn, Marie. Aber du hast recht, acht Beine – es ist eine Spinne! Noch nie sah ich eine Spinne auf einer Grabplatte. Wirklich mysteriös!“
„Meinst du, Bigou hat hierhin auch den Inhalt des steinernen Grabmals gebracht?“
„Möglich ist alles, Marie, vielleicht hat er auch nur ein weiteres Pergament hinterlegt. Eine Schnitzeljagd sozusagen. Er war ja offensichtlich sehr erfinderisch!“
Mit diesen Worten wollte er die Platte an der einen Seite vorsichtig anheben, was ihm jedoch nicht gelang. Bérenger stöhnte. Er erhob sich, nahm das Stemmeisen und schob es darunter. Dann setzte er erneut an. Seine Knie knickten unter dem Gewicht fast ein, und angestrengt fing er zu keuchen an. Ich leuchtete kurz unter die Platte und sah zu meiner Enttäuschung, dass sich darunter kein Sarg befand, sondern eine weitere Steinplatte: Die ursprüngliche Abdeckung des Grabes.
„Komm Marie, Fass mit an, wir müssen die Arcadia-Platte unbedingt ins Beinhaus schleppen. Dort kann ich sie morgen bei Tageslicht in aller Ruhe untersuchen. Der Spruch, die Spinne und der Pfeil müssen in irgendeinem Zusammenhang stehen.“
Zentimeter für Zentimeter zerrten wir unter vielen Unterbrechungen und so lautlos, wie es uns nur möglich war, die Steinplatte hinüber ins Beinhaus, wo Bérenger sie auf der Stelle mit einem alten Tuch verhüllte.
„Guter Gott!“ Ich stöhnte. „Ich bin zum Umfallen müde! Bigou muss Helfer gehabt haben. Allein hat er dieses schwere Stück niemals aufs Grab gelegt.“
„Da magst du recht haben, Marie. Jeder Helfer jedoch - und sei es nur ein kleiner Handwerker wie jener Tiffou - ist zugleich ein potentieller Mitwisser. Und gerade das ängstigt mich. Einerseits hat Bigou sein Geheimnis auf mehrere Weisen raffiniert verschlüsselt. Andererseits könnte es durchaus auch heute noch Personen geben, die davon wissen. Ein Grund mehr, die Platte verschwinden zu lassen.“
Erneut schlichen wir uns auf den Gottesacker zurück. Da schrie zum ersten Mal ganz laut ein Käuzchen. Ich zuckte zusammen. „Ach Marie, du alter Angsthase“, sagte Bérenger leise und fasste mich bei der Hand. „Es ist doch nur ein Vogel. Ein gutes Zeichen, wenn es auf dem Friedhof auch Leben gibt, nicht wahr? Der Tod ist nicht das Ende, er ist der Anfang.“
Vorsichtig blickte er sich nach allen Seiten um und stieß dann einen Satz hervor, der mich in dieser Situation mehr ängstigte als das Geschrei des Käuzchens. Er rief nämlich mit halblauter Stimme: „Herr, erbarme dich unser!“
Das war nicht der Bérenger, den ich kannte. Er war Priester, das wohl, aber meist enthielt er sich im Alltag aller frömmlerischen Anwandlungen. „Alles zu seiner Zeit und an seinem Ort“, war seine Devise. Was hatte ihn veranlasst, sein Innerstes so unverhofft nach außen zu kehren? Waren es Skrupel, die ihn plagten? Hatte er gleich mir Angst?
Als wir wieder beim Grab der Freifrau angelangt waren, kippten wir mit all unserer Kraft und zugleich zu allem entschlossen die alte, ursprüngliche Grababdeckung zur Seite. Sie war Gott sei Dank nicht so schwer wie die, die obenauf gelegen hatte. Doch Bérenger hielt plötzlich inne.
„Marie, stell dich bitte hinter die Stele, und halt sie fest, damit sie nicht umfällt, wenn ich die Grabplatte vollends zur Seite rücke. Du musst gut dagegenhalten.“
„Aber dann kann ich ja nicht sehen, was sich im Grab befindet!“
„Wenn es etwas zu sehen gibt, wirst du es sehen! Hab Geduld“, beruhigte mich Bérenger, bevor er unter heftigem Stöhnen und erneutem Einsatz des
Weitere Kostenlose Bücher