Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
leiden werdet.“
„Marie, du hast uns so oft schon geholfen! Und auch das Geld für das Sanatorium ... Ich kann es dir nicht zurückerstatten!“
Ich nickte. „Mach dir keine Sorgen. Geld ist nicht alles.“
Giselle sah mich dankbar an. „Das werde ich dir nicht vergessen, Marie. Meine Eltern sind tot, die Schwiegereltern alt und krank. Sie haben selbst kaum das Nötigste. Und von Tante Louise habe ich so lange nichts gehört, obwohl ich ihr telegraphiert habe, dass Alain sehr krank ist.“
An der Hand der Nachbarin kam mein Patenkind, die kleine Marie, herein, hinter ihr, tapsig auf allen vieren, Stepháne. Marie knickste artig.
Als Giselle ihre Kinder sah, heulte sie noch lauter. „Ach die Armen, sie wissen nichts vom Tod. Sie denken, eines Tages kommt er wieder, ihr Vater – und ich denke das auch, Marie! Ich auch ...“
Nun verzog auch das Mädchen das Gesicht, und große dicke Tränen quollen ihm aus den Augen. Ich wiegte Marie hin und her, während Stephane den linken Knöchel seiner Mutter umklammerte und sich mühsam an ihr hochzog.
„Quäl dich nicht, Giselle“, sagte ich. „Die Kinder kommen darüber hinweg. Denk nicht an morgen und nicht an übermorgen. Nimm jede Stunde, wie sie kommt!“
Irgendwie kamen mir meine Worte trotz aller Wärme leer vor und falsch obendrein, weil ich selbst nicht danach handeln konnte - und weshalb nur dachte ich in diesem Augenblick, dass der Tod der Liebe ähnlich ist?
Der Wind trug eine kleine, traurige Melodie in Giselles Stube hinein, ganz so, als ob er die junge Witwe damit zu trösten gedachte. Ich öffnete das Fenster einen Spalt weit und ließ die kleine Marie einige Münzen zum alten Marcel hinunterwerfen, der tagein, tagaus mit seiner billigen Geige in den Ortschaften unterwegs war. Er unterbrach sein Spiel, zog die Mütze von seinem spiegelglatten Schädel und verbeugte sich wortlos. Dann bückte er sich, um das Geld aufzuheben.
Jetzt kamen auch mir die Tränen, Alains wegen - und wegen meiner eigenen Situation. Entschlossen setzte ich das Kind auf die Chaiselongue, drückte ihm eine Puppe in den Arm und putzte mir die Nase. Irgend jemand musste in diesem Haushalt die Angelegenheiten in die Hand nehmen. Entschlossen ging ich in die Küche.
Mittlerweile hatte es angefangen, zu dämmern. Ich gab den Kindern heiße Milch und eine Schnitte Brot zum Nachtmahl, dann legte ich die beiden in Alains verwaistes Bett.
„Tante Marie, bleibst du bei uns?“ fragte die Große, die müden Augen weit aufgerissen.
„Ja, meine Süße! Diese Nacht bleibe ich bei euch“, sagte ich und streichelte ihre Wange, „und jetzt schlaft schnell und träumt was Schönes. Morgen früh mache ich euch das Frühstück.“
„Giselle, wer wird deinen Mann beerdigen?“ fragte ich, als ich mich wieder zu ihr in die Stube gesetzt hatte. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Boudet ist krank, wie es heißt, und seinen Vertreter aus Esperaza, den kenne ich nicht. Meinst du, Monsieur Saunière würde es tun?“
Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, hörten wir es laut an der Tür klopfen. Giselle schaute mich überrascht an, so als ob ich hier die Hausherrin wäre und demzufolge genau wüsste, wer da vor der Türe stand. Da kam auch schon die alte Lisette angeschlurft, die im Erdgeschoß des kleinen Hauses wohnte und manchmal auf die Kinder achtgab. Sie meldete uns den Besuch des „ehrenwerten Abbé Bérenger Saunière“.
Bérenger kam hereingestürmt. Mit warmen Worten kondolierte er. „Seien Sie für den heutigen Tag nur damit getröstet, Madame“, sagte er, „dass Ihr Mann in Gottes Hand ist. Einen anderen Trost kann es im Augenblick nicht geben für Sie. Der Herr wird Ihnen Kraft verleihen und neue Zuversicht, wenn die Zeit gekommen ist.“
Sie nickte unter Tränen und versuchte verzweifelt, ihr Haar zurechtzurücken.
Weshalb nur wurden alle Frauen in Bérengers Nähe eitel?
34
„Schon hat geschwätzig leis die Nachtigall
im Dornbusch uns ihr Liebesleid geklagt ...“
Pierre de Ronsard
Ich war stolz auf Bérenger in diesem Augenblick, stolz, dass er stets wusste, wann und wo er gebraucht wurde. Bei allen Verrücktheiten hatte er niemals in den langen aufregenden Jahren, die ich an seiner Seite verbrachte, die Seelsorge und die tatkräftige Hilfe für die ihm Anvertrauten, vor allem für die weniger Betuchten, vergessen. „Arme Leute hat es immer gegeben, und es wird sie immer geben. Was wir – was die Kirche – aber keinesfalls vergessen
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