Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
dürfen, ist, dass schöne Worte alleine die Ungerechtigkeit nicht aus der Welt schaffen und die Verhältnisse nicht bessern.“
Innerlich ruhig ging ich ein weiteres Mal in die Küche, um für uns alle frischen Kaffee zu kochen. Er war da. Für heute war mir die Last genommen. Die beiden redeten lange miteinander.
Nach der Beerdigung, bei der die junge Frau sich so tapfer hielt, wie ich es niemals vermutet hätte, blieb ich eine ganze Woche bei ihr. Ich suchte damit bewusst den Abstand zu Bérenger. Doch nach meiner Rückkehr hatte sich nichts verändert. Wir stritten fast täglich, und ich erschrak nicht schlecht, als ich zufällig bemerkte, dass er nicht nur emsig Zeitungsberichte über Emma Calvé sammelte, sondern in immer kürzeren Abständen auch Briefe von ihr erhielt. Alle seine Freunde schrieben regelmäßig, von der Sängerin jedoch waren in der Vergangenheit nur selten Briefe eingetroffen.
Erst als wir über die Weihnachtstage Giselle und die Kinder zu Gast hatten und miteinander besinnliche Stunden verbrachten, war ich voller Hoffnung, es könnte doch wieder alles so werden wie früher. Tatsächlich vergingen die nächsten Monate, ohne dass wir uns allzu oft stritten und ohne dass Boudet ständig bei uns war. Über die Bedeutung der Arcadia-Platte waren die Priester uneins, das Geheimnis war also noch immer nicht gelöst. Den Grund dafür hätte ich gerne gewusst. Doch Bérenger hüllte sich in Schweigen, und auch sein Tagebuch offenbarte nichts von Bedeutung.
Im Frühjahr 1906 – ich war nun schon zwanzig Jahre in Rennes-le-Château – packte ihn erneut die Reiselust. Wohin er fahren wollte, sagte er wie üblich nicht, und darüber war ich wie üblich mehr als ungehalten. Doch was hätte ich tun sollen? Ich konnte diesen Mann nicht aufhalten, nicht mit Vorwürfen und nicht mit meiner Liebe. Ich denke, niemand hätte das gekonnt. Stundenlang stand ich nach seiner Abfahrt am Küchenfenster und starrte durch die reisenden Wolken hindurch ins Nichts, wohin sich Bérenger begeben hatte. Da ich das Ziel seiner Reise nicht kannte, konnte ich ihn mir auch nirgendwo vorstellen. Ein schrecklicher Zustand, dieses Nichts. Es ist, als ob die ganze Welt nicht mehr existierte.
Dass er zu ihr gefahren war – zu Emma Calvé – diesen Gedanken verbot ich mir zu Ende zu denken.
Still war es plötzlich im Haus, nach all der Aufregung mit dem Packen seiner Taschen.
Draußen hatten sich unzählige Spatzen auf den weit ausladenden Ästen des Feigenbaums niedergelassen, der direkt vor dem Eingang der Villa Béthania steht und mir Jahr für Jahr erstes Frühlingsgrün in die Küche bringt. Noch hatten sich seine dicken Blätter nicht völlig entfaltet. Gut Ding braucht Weile. Die Vögel stritten sich heftig. Sie zirpten und zankten, flogen in kurzen Abständen im Dutzend auf, umrundeten in weitem Bogen aufgeregt den Baum, um sogleich, noch immer schimpfend und zeternd, zu ihm zurückzukehren.
Als Bérenger zurückkehrte, tat er so, als hätten wir beide uns nie gestritten.
Er war ausgelassener Stimmung, hielt minutenlang meine Hand in der seinen, und er brachte Geschenke mit: veilchenblaue schwere Atlasseide, Schmuck, fein ziseliertes Silbergeschirr.
„Schau, Marie, die Farbe des Stoffes passt genau zu deinen Augen. Wunderbar! Und ich habe dir auch Schnittmuster mitgebracht aus London. Wusstest du, dass England das ´Land der Millionäre` genannt wird?`“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nun, ob es noch heute stimmt, kann ich nicht sagen, aber ich habe etliche reiche Leute getroffen dort drüben, manche von ihnen bekleiden hohe Staatsämter. Einige sollen aber inzwischen auch im Schuldturm sitzen, das Glücksspiel, weißt du! An den Sonntagen allerdings plagt die Reichen mitunter das schlechte Gewissen. Nach dem Déjeuner pflegt man sich fein anzuziehen, man nimmt die Kinder an die Hand, verlässt die heimischen Prachtbauten aus Granit oder Ziegelstein und defiliert mit den Kleinen durch die Armenviertel der Stadt, die noch immer ohne fließendes Wasser sind und vor Schmutz starren. Dort ergeht man sich dann in sogenannten ´Wohltätigkeiten`, was heißen soll, dass man einige Münzlein barmherzig unter die Leute wirft, während man sich echauffiert Spitzentüchlein vor die Nase hält. Heuchelei, pure Heuchelei, ich sage es dir, Marie! Die Kinder der Armen gehen auf ´Lumpenschulen`, so nennt man die kirchlichen Internate, wo sie bei schmaler Kost und freiem Logis unentgeltlich einen mäßigen Unterricht
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