Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
diesen neuartigen Eisaufbewahrungsschrank, den mir Bérenger im letzten Jahr gekauft hatte, hätte ich mich mitten im Sommer nicht an dieses Rezept gewagt. Sogar Emma war voll des Lobes gewesen, und ich selbst gönnte mir nach Sonnenuntergang das erste Glas Champagner. Allerdings setzte ich mich mit dem Kelch in der Hand ein wenig abseits, an den Rand des großen Brunnens, wo mich der dichten Büsche wegen niemand sehen konnte. Müde lehnte ich mich zurück und streckte die Beine aus. Dabei atmete ich tief den herben Duft eines vorwitzigen Thymianbüschleins ein, das sich dreist in einem schmalen Spalt der steinernen Wegplatten angesiedelt hatte. dass die Fontänen mich ein wenig nass spritzten, störte mich nicht. Eine Nachtigall schlug.
Plötzlich hörte ich Stimmen. Ich spähte durch den Jasmin. Die Halbglatze von Abbé Gélis leuchtete auffallend im Mondlicht. Neben ihm schlenderte ein anderer Priester, ein dicker Mann, der ständig keuchte. Als die beiden bei den Volieren stehenblieben, hörte ich Gélis sagen: „Sie irren sich, werter Kollege, Saunière hatte völlig recht, was Loisy betrifft. Ich kenne Alfred Loisy persönlich. Er ist ein scharfsinniger, hochintelligenter Mann, vergleichbar mit Voltaire – aber ja, das kann man wohl sagen. Ihm ist außerordentlich an seiner historisch-wissenschaftlichen Arbeit gelegen!“
Die beiden betrachteten nun eingehend die bunten Aras, die an diesem Abend – vielleicht der Gewitterluft wegen - seltsam zahm und obendrein fast stumm waren.
„Ja, wenn er sich tatsächlich nur auf seine wissenschaftliche Arbeit konzentrieren würde“, warf der Dicke ein, „dann wäre ja nichts dagegen einzuwenden ...“
„Da stimme ich mit Ihnen überein. Er überzieht die Kirche zu sehr mit seiner Kritik und seinem Spott“, sagte Gélis. „Beispielsweise behauptet er hartnäckig, dass Jesus das Reich angekündigt hätte, die Kirche aber gekommen wäre. Eindeutiger geht es wohl nicht mehr. Dennoch glaube ich nicht, dass er seiner Kirche eines Tages völlig den Rücken kehren wird.“
„Wenn man ihn aber exkommuniziert, was dann?“
„Damit muss er natürlich rechnen.“ Gélis machte eine wegwerfende Gebärde, so als wenn eine Exkommunikation mit irgendeinem Rüffel verglichen werden könnte. „Das kann jedem von uns passieren, wenn er sich mit gewissen Dingen beschäftigt – auch Saunière ... ihm vor allem, wenn er nicht endlich vorsichtiger wird. Ich befürchte, er steht bereits kurz davor. Er verhält sich zu auffällig. Sie haben es ja heute mit eigenen Augen gesehen. All dieser Prunk und diese Angeberei. Auch weiß ich, dass ihm bestimmte Glaubenszweifel schwer zu schaffen machen. Da fehlt nur noch ein kleiner Funke. Sie werden sehen. Was jedoch Loisy angeht, so denke ich allen Ernstes, dass ein wahrer Modernist wie er, seiner kritischen Einstellung zum Trotz, nicht abtrünnig wird.“
„Aber wie man hört, ist Loisy inzwischen von gewissen Kreisen zum verrufensten Mann ganz Frankreichs gestempelt worden. Kardinal Richard gar hat den Gläubigen und dem Klerus rigoros verboten, sein Buch zu lesen!“
Endlich waren die beiden im Begriff weiterzulaufen. Ihre Rede wurde nun ein wenig leiser, dennoch trug der sanfte Abendwind den Dialog in Bruchstücken zu mir, so dass ich noch immer fast alles verstehen konnte.
„Haben Sie schon von seinem neuesten Werk gehört?“
„Nein. Schon wieder? ... Mut hat er, dieser Nonkonformist! Wie wird es heißen?“
„Das vierte Evangelium“ – ... Kommentar … Johannesevangelium. ... fast tausend Seiten geschrieben ...“
„Interessant, in der Tat. Fleißig ... tausend ...!“
Nun endlich waren die beiden außer Sicht- und Hörweite.
Ich brachte es nicht fertig, mich vom Brunnenrand zu erheben. Wie gelähmt, saß ich noch für Minuten da, lauschte der Nachtigall und starrte ins Wasser. Die Modernisten also. Vor Jahren hatte ich über ihre Bewegung in einer Zeitschrift gelesen. Bérenger hatte im Lyoner Wochenblatt „Demain“ ziemlich auffällig einige Stellen mit roter Tinte markiert, was mich natürlich neugierig machte, wusste ich doch, dass Boudet und Bérenger einer Sache auf der Spur waren, die Raum für vielerlei Spekulationen bot. Allerdings musste ich den Aufsatz mehrere Male lesen, bis ich halbwegs begriffen hatte, um was es ging. Wenn ich mich recht erinnere, wies der Verfasser darauf hin, dass es sich bei der Modernistenbewegung um eine wirklich ernste, religiöse wie kulturelle Krise handelte, die in
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