Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
katholischen Kreisen Englands, Italiens, aber vor allem in Frankreich heraufbeschworen worden war. Die Modernisten schwärmten euphorisch von der „Morgenröte einer neuen Zeit“, Rom jedoch würde ihre hartnäckigen Bestrebungen, die Anfänge des Christentums anders als traditionell zu deuten, als Katastrophe betrachten. Leo XIII. hätte in einem Brief an alle Bischöfe Frankreichs vor den „beunruhigenden Tendenzen“ gewarnt, „die sich in die Bibelauslegung einzuschleichen suchten“. Zwei Priester waren es, die weite Kirchenkreise gegen sich aufgebracht hatten: Tyrell und Loisy. Tyrells Kritik an einem bestimmten päpstlichen Erlass hätte großes Aufsehen erregt. Aber vor allem war es um Loisy gegangen. Ihn, einen Franzosen, würden gewisse Kreise – so das Journal – als „gefährlichen Mann“ bezeichnen.
Gerade der letzte Satz war es, der – rot umrahmt – mich aufmerken ließ. Denn zwei Tage zuvor hatte ich Bérenger und Boudet über diesen Mann reden hören. Und es war Bérenger gewesen, der Loisy in Schutz genommen und ihn mit Noah verglichen hatte und meinte, „dass die Kirche eines Tages froh sein werde, seine Arche zu haben“.
Ich fand seinerzeit die Angelegenheit so interessant, dass ich gar nicht mehr aufhören konnte, zu lesen. Das Ergebnis war ein angebranntes Wurzelgemüse. Bérenger war der strenge Geruch in der Küche sofort aufgefallen. Er hatte ein wenig konsterniert über mein Missgeschick gelächelt.
„Die Modernisten also beschäftigen meine Haushälterin, ei, ei! So weit sind wir schon gekommen! Bist du dir im klaren, Marie, dass dich ein anderer Priester deiner unkommoden Neugierde wegen längst entlassen hätte?“
„Entlassen? Warst nicht du selbst es gewesen, der mir den Rat gab: Wage es, weise zu sein!? “ Ärgerlich schlug ich mit der Hand auf den Tisch. „Wie kann ich mich auf mein Tagwerk konzentrieren, kochen, putzen, waschen, spülen, wenn mir ständig Wörter, Namen oder Begriffe im Kopf herumschwirren, mit denen ich in diesem Haus konfrontiert werde, die mir aber niemand erklärt? Ich gehe nun mal gerne den Dingen auf den Grund. Würde ich den Haushalt des Bürgermeisters führen, dann würden mich vielleicht die Gemeindeordnung oder gewisse Paragraphen nicht schlafen lassen.“
Bérenger wurde er ernst. „Ich entschuldige mich bei dir, Marie! Du brauchst dich natürlich nicht für dein Interesse vor mir zu rechtfertigen. Wenn dich allerdings die Modernistenbewegung so in ihren Bann schlägt, dass du das Gemüse anbrennen lässt, so ist das schon ein Alarmzeichen. Ich war außerdem immer bereit, dir Rede und Antwort zu stehen, wenn ich es vor mir selbst verantworten konnte.“
Ich wollte seine Bereitwilligkeit in diesem Augenblick nicht aufs Spiel setzen, sonst hätte ich ihm eine schöne Kollektion von Fragen präsentieren können, deren Beantwortung er regelmäßig ausgewichen war oder sogar abgelehnt hatte.
„Ich möchte vor allem, dass du mich ernst nimmst, Bérenger.“
„Das tue ich doch, Marie“, hatte er beteuerte „das tue ich.
Und nun drohte Bérenger, Gélis zufolge, die Exkommunikation? Seines Prunkes wegen oder irgendwelcher Glaubenszweifel? Auf was hatte sich Bérenger da nur eingelassen?
Plötzlich fühlte ich es wieder, das lange verborgen gebliebene, seltsame Ziehen in meinem rechten Mittelfinger, den ich seit der Jugendzeit meinen „Seelenfinger“ nenne. Stets war dieser Schmerz ein Vorbote bitterer Tränen gewesen. Ich streckte meine Hand mitsamt dem Champagnerglas ins Wasser und dachte nach. Der Duft eines nahe stehenden Ysops stieg mir in die Nase und vermischte sich mit dem des Thymians und des Jasmins. Und dann war es unausweichlich, dass mir Tränen aus den Augen quollen.
Schande und Schmach, so sollte mich niemand sehen, Emma schon gar nicht. Ich schlich mich über die Hintertreppe in mein Zimmer. Nachdem ich mir die Augen gekühlt und die Nase ein wenig gepudert hatte, zog ich mir trotzig das neue veilchenfarbene Seidenkleid an, steckte eine schöne antike Brosche an den langgezogenen Kragen und schlenderte, sozusagen als Gast, zu den anderen zurück. Die Sängerin würde sich nicht schlecht ärgern.
Inzwischen waren die Musiker eingetroffen. Die drei Männer in schwarzen Fräcken und mit Zylindern packten soeben ihre Instrumente aus. Das erste Paar, das die Terrasse betrat, um miteinander zu tanzen, war, wie konnte es anders sein, der Gastgeber Bérenger und sein Ehrengast Emma.
„Curè, du hast es mir
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