Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
versprochen. Der erste Tanz gehört mir, nicht wahr?“
Jedermann hatte ihre lauten Worte gehört und gesehen, wie sie dabei erwartungsvoll den geschminkten Mund spitzte. Und mein Bérenger, mit dem vielbeachteten roten Kummerbund aus Seide, geleitete sie ohne jeden Widerspruch äußerst galant die Treppe hinauf zur Tanzfläche. Ihr Gefolge - tout Paris - stolzierte hinterher, von diesem und von jenem schwärmend - aber vor allem von „ihrem“ Charme, „ihrer“ Wortgewandtheit, „ihrer“ Honigstimme, „ihrem“ Liebreiz und ihrer „entwaffnenden Selbstironie“, was immer man darunter verstand. Ich schloss mich ihnen an – nicht in der Schwärmerei, versteht sich, sondern mit weiteren Champagnerflaschen für die Gäste. Und - ob es mir gefiel oder nicht - das Paar gab ein schönes Bild ab, ein romantisches obendrein, so dass es mir erneut das Herz zusammenzog. Kurze Zeit darauf tanzten fast alle, nur der Dicke und Gélis hielten sich unweit der Gruppe der Musizierenden an ihrem Glas Rum fest. Ich selbst versank trotz des Veilchenfarbenen in einem Sud aus Selbstmitleid und Eifersucht und wünschte einer einzigen Person schnellstmöglich die Pest und die Krätze zugleich an den Hals: Emma.
Im Laufe der nächsten halben Stunde gab die hochgelobte Sängerin unter heftigem Einsatz zahlreicher glitzernder und schillernder Schleier einige Arien und Liebeslieder zum besten – natürlich auch Ma Lisette -, und ich muss sagen, singen konnte sie. Singen und trinken. Emmas Durst kannte keine Grenzen. Nach jedem neuen Chanson stürzte sie, erhitzt und noch unter dem Beifall der Umstehenden, ein oder zwei Gläser kühlen Champagner hinunter, warf die geleerten Gläser dann über ihre rechte Schulter und rief, wenn sie es klirren hörte, mit zunehmend heiserer Stimme: „Auf unser aller Wohl, meine lieben Brüder und Schwestern im Herrn.“
Alle lachten.
Kurz nach Mitternacht bekam Bérenger Probleme mit ihr. Nachdem sie bei einem Walzer unfein gestolpert war, gab sie endlich das Tanzen auf. Gelöst und nicht wenig aufgelöst, setzte sie sich eng neben Bérenger auf eine der halbkreisförmigen, steinernen Eckbänke, die in die Terrassenmauer eingelassen sind. Sie nippte an einer neuen Champagnerflöte und redete unablässig auf ihn ein. Aufs äußerste beunruhigt, sah ich, wie ihr Hut zu Boden flatterte und ihr Kopf halb auf Bérengers Schulter ruhte. Da offenbar auch eine ihrer Haarspangen aus Elfenbein aufgegangen war, fielen die dunklen Locken teils ungehindert in ihren tiefen Ausschnitt, teils lagen sie malerisch auf Bérengers Brust. Die zarten cremefarbenen Heckenrosen, die sich am Terrassengeländer hochrankten, gaben den passenden delikaten Hintergrund ab. Ob sie allerdings zu diesem Zeitpunkt noch in der Lage war, den feinen Duft der halbgeschlossenen Rosen wahrzunehmen, war zu bezweifeln.
Ich schwöre, dass ich sie nicht absichtlich betrunken machen wollte, wie seinerzeit Caclar, den Ziegenbock, nein – Emma selbst schrie förmlich nach Champagner: „Marie!“ rief sie laut - nur das eine Wort „Marie“, und schwenkte dabei ungeduldig ihr Glas. Ihr Zerstörungswerk hatte sie glücklicherweise nach der fünften Sektflöte aufgegeben, als ich schon Angst bekam, dass der Gläservorrat zur Neige gehen könnte.
Der fortgeschrittenen Stunde wegen gaben auch die anderen nach und nach das Tanzen auf. Sie standen nun wieder in Grüppchen beieinander; einer deutete ins dunkle Tal hinunter, etliche schlenderten Arm in Arm durch die Gärten, lachend, poussierend oder in ernste Gespräche vertieft.
Selbst die Musiker vertraten sich die Beine. Ich lehnte mich an das schmiedeeiserne Geländer nahe der Treppe und schloss für einige Augenblicke die Augen. Wortfetzen zogen wie Vogelschwärme über meinen Kopf hinweg. Erregt hörte ich den Dicken keuchen: „Die Trennung von Staat und Kirche hat uns an den Rand des Ruins gebracht! Unsere kirchlichen Schulen erhalten keine Unterrichtserlaubnis mehr.“
„So so, interessant“, meinte eine eher uninteressiert klingende weibliche Stimme.
Dann eine Frau mit dunklem, lauerndem Timbre: „Haben Sie schon von den wilden Tumulten in Paris gehört, wegen der Ausstellung der sogenannten Kubisten?“
„Ja!“ Ich hörte Larzac lachen. „Einer soll es besonders schlimm getrieben haben.“
„Meinen Sie vielleicht diesen Picasso?“ fragte Hoffet, der an diesem Tag noch keine zwei Worte von sich gegeben hatte und auch sonst eher schweigsam war.
„Natürlich, wen sonst.
Weitere Kostenlose Bücher