Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
mitten im Krieg?“
„Ein Kollege hat mich zu einem Treffen mit einem Professor für Fundamentaltheologie eingeladen. Mal sehen, wie ich meine Vertretung regeln kann. Im Tal hat ein junger Priester sein Amt angetreten, Abbé Rivière, der könnte ein zusätzliches Gehalt gut gebrauchen. Wenn ich mit ihm übereinkomme, könnte ich einige Zeit in Paris bleiben. Das wäre eben auch eine gute Gelegenheit für dich, hier einmal alles Henriette zu überlassen.“
„Wenn wir beide zur gleichen Zeit wegfahren, Bérenger“, gab ich ein wenig zynisch zu bedenken, „hast du da keine Skrupel, dass die Leute denken könnten, wir machten gemeinsam Ferien?“
Bérenger ließ sich nichts anmerken.
„Nein“, sagte er – und er spielte seine Rolle mit Bravour –, „wer ehrlichen Herzens handelt, dem wird man nichts Derartiges unterstellen. Du fährst ans Meer, um dich zu erholen, und ich nach Paris, um zu arbeiten. Basta, wie du immer so schön sagst.“
Schande und Schmach. Eindeutiger ging es nicht. Bérenger hatte die Weichen gestellt. Wenn sie nur mitspielen wollte, die eigensinnige Marie, dann könnte man ungeniert die großen Koffer packen und Dinge nach Argentinien mitnehmen, an denen man von ganzem Herzen hing. Die wertvollen Bilder beispielsweise, das Gold aus dem Keller und natürlich den Ovid diese bibliophile Kostbarkeit aus der Grotte, hinter der Emma hergewesen war wie der Teufel hinter der armen Seele.
Den Gral? Nein, ihn nicht. Der befindet sich wohl längst in Rom.
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„Wie einen wunden Vogel
trage ich dich in mir ...“
Louis Aragon
Der Gral. Ich weiß nicht, ob wir ihn je in den Händen hatten, denn niemand kann wissen, ob es ihn je gab. Schließlich haben die Gralslegenden bislang keine wie auch immer geartete endgültige Aufklärung erfahren. Meine Vermutung, dass Bérenger den wertvollen Kelch, den der Tempelritter im Bergesinneren über die Jahrhunderte gehütet hatte, nach Rom geschickt hat, um sich mit ihm freizukaufen, bekam neue Nahrung, als ich irgendwann alle Schränke und Truhen nach ihm durchwühlte und ihn nirgends fand.
„Wer ehrlichen Herzens handelt ...“ Bérengers Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Bei aller Liebe, was war er doch für ein Heuchler geworden, was für ein Lügner. Ich begann mich ernsthaft zu fragen, ob sich wohl viele Geistliche irgendwann in ihrem Leben so zu ihrem Nachteil veränderten. Wagt es jemand, einen Priester der Lüge zu bezichtigen oder seine Handlungen ernsthaft in Frage zu stellen, landet er schnell im Abseits. Die Heilige Mutter Kirche selbst fängt ihre Priester auf, schützt sie in all ihrer Unvollkommenheit. Für manche Männer scheint das Priesteramt ein ausgezeichnetes Versteck zu sein vor der Realität des Lebens, eine Zuflucht vor den Bedrängnissen eines wenig barmherzigen Daseins. Eines Tages hatte ich mitangehört, wie ein Kollege von Bérenger in weinseliger Bekenntnislaune von seinem despotischen Vater erzählte, der ihn und die Mutter ständig geschlagen und unter Druck gesetzt hatte. Sein Entschluss, Priester zu werden, stand aus diesem Grund bald fest. Aus Angst, dem Vater nachzugeraten und eigene Kinder irgendwann ebenso scharf zu züchtigen, wählte er die Flucht.
Zu meiner tiefen Traurigkeit gesellten sich Wut und Bitterkeit. Es gab Tage, da hasste ich Bérenger geradezu für seinen Verrat. In den Nächten aber fühlte ich noch immer eine heiße, aufrichtige Liebe zu ihm. Alles, alles – seinen Betrug, seine Heimlichkeiten, seine Feigheit - wollte ich auf immer vergessen, wenn er nur hierbliebe, bei mir. Doch wir redeten kaum mehr miteinander.
Kurz vor den Weihnachtstagen überfiel mich regelrecht Panik. Es würde das letzte gemeinsame Weihnachtsfest sein, das wir miteinander feierten. Ich überlegte lange und tat dann das, was ich in seinen Augen wohl am besten konnte. Ich briet eine Gans, schön rösch und knusprig, reichte dazu Maronen (der alte Maurice aus dem Austragshäuschen der Caclars hatte mir einen ganzen Sack voll vor die Tür gestellt) und Kartoffelbällchen. Als Vorspeise kredenzte ich jenes köstliche Lauchsüppchen, dem Bérenger noch nie hatte widerstehen können. Beim Gemüseputzen hatte Henriette hereingeschaut, sich ein Messer genommen und mir geholfen. Danach packte sie ihr Geschenk für mich aus: einen wunderschönen achtstrahligen Stern, den ihr Mann aus feinbearbeitetem Holz gebastelt hatte. Wieder kamen mir die Tränen. Doch Henriette stellte keine Fragen. Sie nahm mich in den Arm und
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