Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
die Gans vielleicht zu fett?“ fragte ich ihn besorgt. „Ich habe wie immer Beifuß hineingesteckt, um sie verträglicher zu machen, aber ...“
„Nein, nein.“ Bérenger schüttelte den Kopf. „Die Gans war exzellent, Marie, überhaupt nicht fett! Vielen Dank für all deine Mühe am heutigen Abend. Es ist auch nicht mein Magen, nur so eine Art unbestimmtes Unwohlsein. Ich denke, ich ziehe mich jetzt gleich in die Bibliothek zurück. Los, Harpalos, auf!“ Der Hund gähnte laut, dehnte und streckte sich und warf beim Aufstehen seinem Herrn einen vorwurfsvollen Blick zu, der besagte: Wie kannst du es wagen, mich bei diesem Wetter hinauszuscheuchen?
Wir lachten ein wenig über ihn.
„Würdest du mir den Tee, ehe du zu Bett gehst, heraufbringen, Marie?“ fragte Bérenger an der Tür. „Wenn du die Kanne auf den Kaminsims stellst, bleibt er die ganze Nacht warm, und ich kann mich nach Bedarf selbst bedienen.“
Nachdem ich das Geschirr abgespült hatte, stieg ich auf den Dachboden, wo auf einer Leine meine im Sommer getrockneten und gebündelten Schätze hingen: Eisenkraut, Rainfarn, Arnika, Melisse, Fenchel, Kümmel, Anis, Salbei, Zinnkraut, Frauenmantel, Schafgarbe, Königskerze, Beifuß, Johanniskraut, Wermut, Kamille, Thymian, Osterluzei und Baldrian. Im Schein der Laterne suchte ich mir zusammen, was ich brauchte, und warf dann einen Blick zur runden Dachluke hinaus, um nach dem Wetter zu sehen. Es schneite noch immer. Undeutlich konnte ich Bérengers Gestalt wahrnehmen, wie er im Turm Magdala hin- und herlief. Ich dachte bei mir: Der Turm und er – sie sind eins. Ginge er, so würde ganz sicher etwas von ihm zurückbleiben. Doch was sollte ich mit einer solchen Aussicht anfangen?
Als der Tee aufgebrüht war und lange genug gezogen hatte, machte ich mich auf den Weg. Ich schlüpfte in die Fellstiefel, warf ein warmes Tuch über Kopf und Schulter, und stapfte zum Turm hinauf. Ein scharfer Nordostwind wehte mir Schneekristalle ins Gesicht. Der Hund knurrte kurz, als ich anklopfte und eintrat. Bérenger saß nun im Sessel und las. Er hatte sich ein dickes, wollenes Plaid um die Knie gelegt und nickte mir freundlich zu.
„Ach, meine Liebe, was würde ich ohne dich tun?“ sagte er dann, mit seltsam flackernden Augen, jedoch ohne rot zu werden. Ich stellte wortlos die Kanne auf den Kamin. Nachdem wir uns höflich eine gute Nacht gewünscht hatten, machte ich mich auf den Rückweg. Mittlerweile hatte es fast aufgehört zu schneien, und der Park lag wie verzaubert zu meinen Füßen. Liebte Bérenger Emma so sehr, dass er seine Umgebung gar nicht mehr richtig wahrnahm, die schneebeladenen Bäume, Büsche und Sträucher nicht sah, die silberglänzend im nächtlichen Schatten lagen; nicht den Bugarach, den der Mond in dieser kalten Weihnachtsnacht in ein unwirkliches, beinahe gespenstisches Licht tauchte ...?
Als ich mir die Stiefel abklopfte, schoss mir zum ersten Mal ein vager Gedanke durch den Kopf. In dieser Weihnachtsnacht – ausgerechnet in einer Weihnachtsnacht – begann etwas in mir zu reifen, das besser ungedacht geblieben wäre. Ich hoffte, der Versuchung widerstehen zu können, doch als sich am Altjahresabend Bérenger gleich nach der Messe wiederum mit einer Kanne meines im ganzen Dorf berühmten Kräutertees in seinen Turm zurückzog, war dem Plan neue Nahrung gegeben.
Melisse, Fenchel, Kümmel, Kamille, Anis, Salbei – heilsam, wenn man die richtige Mischung der sechs Ingredienzien kennt ... Plötzlich war sie wieder da, die absurde Idee. Sie überfiel mich mit einer wahren Heftigkeit in dieser einsamen, sternenklaren Nacht zwischen den Jahren 1916 und 1917, verfolgte, bohrte und drangsalierte mich all die einsamen Stunden bis zum Neujahrsmorgen. ... Es kann nichts Schlimmes passieren, wenn du nur aufpasst! ... Nein und abermals nein, ich tue es nicht!
Im Morgengrauen war mein Bett zerwühlt, die Laken und das Hemd ganz feucht. Ich selbst zitterte vor Kälte und Entsetzen. Längst aber hatte ich der verlockenden Stimme in meinem Inneren nachgegeben und den festen Entschluss gefasst zu handeln:
Bei Asmodi, ich würde Bérenger nicht ziehen lassen! Niemals.
Am 12. Januar stieg ich im Morgengrauen zu Fuß hinunter nach Couiza. Den Einspänner konnte ich nicht benutzen, weil der Weg völlig verharscht war. Ein Eisregen war in der Nacht zuvor gefallen, ungewöhnlich für unsere Gegend. Ich erinnerte mich aber an ähnlich harte Winter in meiner Kindheit. Mein Vorhaben duldete jedoch keinen
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