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Marie ... : Historischer Roman (German Edition)

Marie ... : Historischer Roman (German Edition)

Titel: Marie ... : Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Luise Köppel
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freizügiger Kleidung, aufgelöstem Haar oder ähnlichem in Versuchung gebracht. Er selbst war es, dessen Selbstbeherrschung ihn in der Nacht vor seiner Abreise schmählich im Stich gelassen hat. Beiseite gewischt waren alle vernünftigen Versprechen, als er an meine Kammertür klopfte und mit leiser Stimme um Einlass bat.
    „Marie“, sagte er, nachdem er sich auf meiner Bettkante niedergelassen und meine Hände in die seinen genommen hatte, „ich habe einen großen Fehler begangen. Ich habe geglaubt, in Enthaltsamkeit mit dir unter einem Dach leben zu können. Doch Liebe und Vernunft passen nicht zueinander. Schon dieser Martin Luther, der ein bedeutender Theologe war, obwohl er die Kirche gespalten hat, war der Meinung, dass es unchristlich und schädlich sei, wenn ein Priester kein Eheweib hat! Und es ist so! Ich ... ich kann kaum mehr schlafen“, brach es aus ihm heraus. „Ständig sehe ich dein Bild vor meinen Augen. Du bist so schön, ich möchte dich immerfort küssen und zärtlich zu dir sein ... Du schweigst?“ fragte er nach einer Weile. „Ich will mir deine Zustimmung nicht erschmeicheln, Marie, sie muss schon von Herzen kommen ...“
    Ich brachte kein Wort heraus vor Überraschung. Obendrein flog mich ein Kälteschauer nach dem anderen an. War das die Liebe?
    Da fing Bérenger an, meine Hände zu küssen, ganz sanft, Finger um Finger. Endlich sah er mir tief in die Augen. Dort fand er die Antwort, die mein Mund ihm nicht geben konnte.
    Später, als die Leidenschaft abgeklungen war, strich er mir über das Haar und meinte: „Das Leben, Marinette, erschließt sich in seiner ganzen Fülle nur demjenigen, der sich auch darauf einlässt. Lange - fast zu lange - habe ich gebraucht, um diese Worte in ihrer ganzen Kraft zu verstehen.“ Ein letztes Mal küsste er mich zärtlich und nahm dann Abschied von mir, weil er zeitig, noch vor dem Morgengrauen, aufbrechen wollte. An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte leise: „Ein kleines Mädchen aus Couiza hat mich heute nacht sehr glücklich gemacht.“
    Verwirrt, aber ebenso unendlich glücklich, blieb ich zurück. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Noch immer durchtränkt von der Wärme seines herrlichen Körpers, spürte ich dem Geruch seiner Haare auf dem Kissen nach, bis ich ihn wegfahren hörte.

    Allein und ziemlich traurig saß ich zwei Tage darauf im Abteil. Der Zug war mit beträchtlicher Verspätung in den Bahnhof von Esperaza eingefahren und stand seit einer halben Stunde auf dem Gleis. Vielleicht wartete man noch auf einen wichtigen Fahrgast, oder es gab irgendein technisches Problem. Ich beugte mich aus dem Fenster, um nach einem Schaffner Ausschau zu halten. Der Wind fuhr mir durchs Haar. Der Perron lag verlassen im Schatten einer alten Eiche. Ein halb zerfetztes Plakat – gerade noch war das Gesicht von Jean Jaurès zu erkennen - hing neben dem Fahrtkartenschalter: Demokratischer Fortschritt kann nur einhergehen mit einer besseren Schulbildung des Volk ...!
    Jean Jaurès? Hatte mir nicht unlängst der Ramoneur, den sie im Dorf „den Roten“ nennen, bei einem seiner Besuche eine „Dépêche de Toulouse“ zugesteckt, in der ein Artikel von Jaurès zu lesen war, der von den streikenden Minenarbeitern handelte?
    Eine bessere Schulbildung des Volkes? Ha! Ich kramte einen Bleistift hervor, nahm meinen ganzen Mut zusammen und stieg aus. Ich sah mich nach rechts um und nach links, niemand war zu sehen, auch nicht der Bahnhofsvorsteher, lief auf Jaurès` Plakat zu, strich „des Volk“ durch und schrieb, so dick und fett es mit dem Stift möglich war, darüber „der Frauen“ .
    Stolz erhobenen Hauptes betrachtete ich mein Werk. Ich hatte nicht geahnt, wie gut es tut, einmal öffentlich seine Meinung kundzutun. Zufrieden wie selten, stieg ich wieder ein und sah vom Abteilfenster aus, dass mein Schriftzug noch ein wenig größer hätte sein können. Es war eben nicht genügend Platz gewesen auf dem Plakat. Der arme Jaurès würde sich über meine Meinungsäußerung sicher nicht empören. Er saß seit einiger Zeit im Gefängnis und hatte andere Sorgen. Doch es gab genug Konservative, nicht nur Männer, die sich aufregen würden: „Da war wohl eine dieser frechen Suffragetten am Werk!“ Zu denen zählte ich mich zwar nicht, aber insgeheim bewunderte ich ihren Mut. Ich dachte an die verwöhnte Juliette in Lyon, die ich bald sehen würde, mit ihrem gefliesten Badezimmer, und zugleich an die Frauen, die man über die Webstühle hängte

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