Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Marie ... : Historischer Roman (German Edition)

Marie ... : Historischer Roman (German Edition)

Titel: Marie ... : Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Luise Köppel
Vom Netzwerk:
und zu einem Teil dieser neuartigen Maschinen machte. Was ließen wir Frauen uns nur alles gefallen?
    Mein Kopf schmerzte. Ich schloss das Fenster, setzte mich wieder auf die hölzerne Bank und versuchte zu lesen, um mich abzulenken, aber meine Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Schon jetzt vermisste ich Bérenger. Resigniert steckte ich nach einigen Minuten die „Irrfahrten des Odysseus“, die ich mir aus seiner Bibliothek ausgeliehen hatte, in meine Reisetasche zurück. Noch immer wollte der Zug nicht abfahren. Ich holte einen Apfel heraus, rieb ihn tüchtig ab und biss hinein, obwohl ich keinen Hunger hatte. Dennoch zwang ich mich, den Apfel zu Ende zu essen, warf anschließend den Putzen aus dem Fensterschlitz und hoffte inständig, dass meine Reise, die noch gar nicht begonnen hatte, am Ende nicht auch zu einer Odyssee werden würde.
    Endlich wurde der Zug „hinausgepfiffen“, wie Bérenger immer sagt, der zwar durchaus den Fortschritt begrüßt und die Züge fleißig nutzt, sich aber insgeheim die „Berlinen“ zurückwünscht, diese schweren, viersitzigen Reisewagen, vor die man acht Pferde spannen musste.
    Die Lok schnaufte und ächzte und setzte dann ihre ganze Kraft ein, um in Fahrt zu kommen. Im Nu zogen dicke, weiße Dampfwolken am Fenster vorüber. Da und dort sah man sich kaum bewegende Farbtupfer in der Ferne: Leute bei der Feldarbeit. Oder Schäfer? War wohl Jacques unter ihnen? Ach nein, sicher nicht! Er hatte sich vor einigen Wochen nach Spanien aufgemacht, um dort ein billiges Häuschen in den Bergen zu kaufen und sich zur Ruhe zu setzen. Wehmütig dachte ich an den guten Mann, dessen Lebensmaxime das Leben an sich war. Wie hatten wir Kinder ihn bewundert, wenn er hoch oben auf seinen alten Stelzen saß, um seine blökende Herde im Blick zu haben – und strickte. Unzählige Male hatte ich ihm dabei zu Füßen gesessen, das Knäuel rohweißer, kratziger Wolle in der Hand. Die Beine des Schäfers steckten sommers wie winters in weichen, braunen, ziemlich fleckigen Schaftstiefeln, die er auf die hölzernen Tritte der Stelzen stemmte, die schräg in den Boden gerammt waren. Mit dem Hinterteil saß er auf einer dritten Stelze, die, ungefähr zwei Meter hoch, mit einem lederbespannten Holzsitz versehen war. Locker und entspannt thronte er dort droben, mitunter stundenlang, bis er es plötzlich leid war und mit einem Satz hinabsprang, um ein Stück Käse mit uns Kindern zu teilen oder uns zu zeigen, wie man ein Holunderholz so zurichtet, dass man damit drei Meter weit Wasser spritzen konnte. Gegen die Fallensteller und Vogelfänger in unserer Gegend stand er in einem einsamen Kleinkrieg: Er stieg ihnen heimlich in die Garrigue nach und zerstörte all ihre ausgelegten Fallen. Vehement weigerte er sich demzufolge auch, am Spieß gebratene Drosseln und andere Singvögel zu essen. Das Schönste an ihm aber waren seine freundlich schimmernden, ein wenig schräg stehenden Bernsteinaugen und seine sanfte, einlullende Stimme, die uns in ihren Bann zog, wenn er uns seine spannenden Geschichten erzählte. In unserer Phantasie war Jacques der König – wir Kinder sein Hofstaat und seine Schafe die Untertanen. War schon das Kunststück, sich in schwindelnde Höhe auf den Stelzensitz zu schwingen, beeindruckend, so war es erst recht ein Rätsel für uns, wie er sich dort oben für Stunden in der Balance halten konnte - und obendrein noch stricken!
    Der Zug ratterte und schnaufte jetzt, was das Zeug hielt, so als ob er die Verspätung in kürzester Zeit einholen wollte. Andauernd flog die Tür meines Abteils auf, wobei ein ekliger Geruch von Rauch und Urin zu mir hereindrang. Rasch träufelte ich ein wenig Lavendelöl aufs Taschentuch. Wie lange würde es dauern, bis ich Bérenger wiedersah? Zwei Wochen, drei?
    Beim nächsten Halt stieg eine pausbäckige Bauersfrau mit blauem Kopftuch zu. Die gute Frau war ein Geschenk des Himmels. Sie setzte sich mir gegenüber, schenkte mir mit einem fröhlichen Lachen drei rote Äpfel und lenkte mich von meinen unfruchtbaren Gedanken und den schlimmen Gerüchen ab, indem sie mir lang und breit ihre Lebensgeschichte erzählte.

    Barthélémy stand am Bahnsteig, blass und schmal, jedoch über das ganze Gesicht strahlend. Nicht meinetwegen, sondern weil das Kind geboren war – ein strammes, gesundes Mädchen. Dem Himmel sei Dank!
    Juliette hatte viel Blut verloren und lag leichenblass und abgekämpft in ihrem Bett. Nicht einmal das exklusive cremefarbene Spitzennachthemd ließ sie

Weitere Kostenlose Bücher