Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
auch nur annähernd wie eine glückliche Mutter aussehen.
„Na, Schwägerin, du hast es ja auch ohne mich geschafft! Herzlichen Glückwunsch“, versuchte ich sie aufzumuntern.
Die Ärmste brachte gerade noch ein schiefes Lächeln zustande und hauchte: „Hallo, Marie“, dann schloss sie die Augen und fing an, ganz leise zu schnarchen.
„Lassen wir sie schlafen“, meinte die stolze Großmutter – eine überschlanke Frau mit eisgrauem Haar und sprödem Charme -, bevor sie die Erschöpfte sanft zudeckte, mich anschließend weniger sanft auf die Wangen küsste. Die Kleine, die den Namen Olive bekommen sollte, hatte die winzigen Hände zu Fäusten geballt und lag wohlig in einem seidenen Wickelkissen. Ich stupste sie an der Nase. Sie öffnete die Augen, um sogleich kräftig zu brüllen. Das gefiel mir sehr.
Der einzige, der trotz aller Aufregungen einen kühlen Kopf bewahrt hatte, war Monsieur Caprière. Völlig unbeeindruckt, ja geradezu nonchalant, saß er mit übereinandergeschlagenen Beinen im Salon, sog genüsslich an seiner Pfeife und las die „Le Monde“. Bei meinem Anblick legte er Zeitung und Pfeife zur Seite, stand auf und begrüßte mich freundlich.
„Nun, Mademoiselle Marie, herzlich willkommen in Lyon! Hatten Sie eine gute Reise?“
Einem solch charmanten Mann von Welt kann man wirklich nicht mit profanen Dingen wie Kopfschmerzen oder schlechtem Geruch in verspäteten Zügen kommen, und so bedankte ich mich nur höflich für seine Nachfrage.
„Monsieur Caprière“, fragte ich ihn noch am gleichen Abend, „ich würde gerne Ihren Buchladen aufsuchen und ein wenig darin stöbern. Wäre Ihnen das recht?“
Damit, dass eine Landpomeranze wie ich sich nach Büchern erkundigte, hatte er wohl nicht gerechnet.
„Suchen Sie etwas Bestimmtes? Wir haben gerade neue Liebesromane hereinbekommen, wenn ...“
„Nein, nein, danke“, wehrte ich ab. „Ich interessiere mich im Augenblick für das Mittelalter, für die Ketzerei in dieser Zeit und am Rande auch ein wenig für Blanca von Kastilien.“
Caprière war vollends verblüfft.
„Alle Achtung, Marie, Sie beschäftigen sich mit ausgefallenen Dingen! Doch auch damit können wir dienen, denn wir sind gut sortiert. Barthélémy wird dafür sorgen, dass Sie einen umfassenden Einblick in Ihren Themenkreis bekommen, Mademoiselle.“
Mein Bruder nickte ergeben.
„Ach – auf ein Wort noch, Mademoiselle Marie“, rief mich der alte Herr zurück, als ich den Salon schon verlassen wollte. „In unserer Familie ziemt es sich nicht, Geld voneinander zu fordern. Nehmen Sie also unbesehen all die Bücher mit nach Hause, die Sie für Ihre Studien benötigen!“
„Monsieur, Sie sind überaus nobel!“ Ich bedankte mich mit einem strahlenden Lächeln und versprach zugleich, seine Großzügigkeit schon deswegen nicht auszunutzen, weil ich die Bücher selbst unseren steilen Berg würde hinaufschleppen müssen.
9
„Doch es war immer der Mond –
der Mond, der schlafen ging ...“
Aloysius Bertrand , Le fou
Ich blieb noch bis zur Taufe von Olive in Lyon, verfolgte, wie das Kind kräftiger wurde und Juliette sich erholte. Noch immer war sie kapriziös. Wenn sie nicht gerade mit dem Säugling beschäftigt war, traktierte sie stundenlang den Flügel, bis ihre Mutter ihr eines Morgens ingrimmig vorhielt, dass sie kurz vor einem Migräneausbruch stünde und, bitteschön, doch auch der Säugling etwas mehr Ruhe benötigte. Daraufhin zog sich die junge Mutter beleidigt zurück, so dass ich sie fast nur noch zu den Mahlzeiten zu Gesicht bekam.
Ich selbst übernahm das Regiment in der Küche und zeigte dem Dienstmädchen, wie man die Speisen schmackhaft und sparsam zugleich zubereitet, so dass die Herrschaften nicht nur gesättigt, sondern rundum zufrieden waren. Monsieur Caprières und meines Bruders Augen aufleuchten zu sehen, wenn eine meiner Spezialitäten aufgetischt wurde, war mir Lohn genug. Doch auch ich lernte von Babette, beispielsweise wie man, ohne ein Malheur anzurichten, Wäsche bläut, Korsetts, Unterröcke oder Spitzenblusen in lauwarmer Milch wäscht, sie danach in Zuckerwasser ausspült und noch halbfeucht bügelt. Solch wertvolle Dessous wie die Lyoner Damenwelt besaß ich zwar nicht, aber man konnte ja nie wissen ...
Auf einem unserer sonntäglichen Spaziergänge durch die Stadt mit ihren eleganten Fassaden ruhten mein Bruder und ich uns gerade bei einer Tasse Kaffee im Café Oriental aus, als sich am Nebentisch eine wirklich seltsame
Weitere Kostenlose Bücher