Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
mich, die Kerze zur Seite zu stellen und mit anzupacken. Gemeinsam zogen wir den Stein vollends empor. Wir plagten uns ziemlich, denn er war furchtbar schwer. Nachdem wir ihn vorsichtig gekippt hatten, legten wir ihn langsam auf die andere Seite.
„Leuchte, Marie, leuchte! Guter Gott!“ rief Bérenger, alle Vorsicht vergessend. „Die Rückseite des Steines ist ja bearbeitet! Sieh nur, Marinette, welch herrliches Relief! Man kann deutlich ... jawohl – es ist ein Ritter auf einem Pferd. Ein Ritter. Er führt ein Kind mit sich - oder vielleicht einen weiteren Ritter?“
Der Stein war wunderschön. Wir konnten uns gar nicht satt sehen. Immer wieder strich Bérenger über die eingemeißelten Umrisse, wobei er sorgsam allen Staub aus den Vertiefungen entfernte.
„Warum nur hat man diese herrliche Steinplatte mit dem Relief nach unten verlegt?“ fragte ich.
Bérenger schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Vielleicht ist dieser Ritter hier bestattet worden, wir werden sehen. Irgend jemand hatte wohl ein großes Interesse daran, seine Grabstätte vor anderen verborgen zu halten. Eines aber steht fest, Marie, auch wenn der Stein gut erhalten ist, muss er sehr alt sein.“
Die Kerze flackerte unruhig, wenn man sie dem Loch, das sich nach der Entfernung der geheimnisvollen Ritterplatte aufgetan hatte, näherte. Es zog aus der Öffnung, die allerdings um einiges kleiner war als die Platte. Bérenger griff vorsichtig hinein. Er tastete und tastete, dann blickte er zu mir auf und sagte mit verblüfftem Gesicht: „Marie, gehörst du zu den Frauen, die leicht in Ohnmacht fallen?“
„Nein“, lachte ich verhalten, „keine Angst! Seit meiner Zeit bei der Trussaut erschüttert mich so schnell nichts!“
„Na, na! Auch kein wirklicher Klappermann, meine Liebe?“ fragte er grinsend und zog vorsichtig einen Totenschädel aus dem Loch heraus.
„Bérenger“, rief ich, „der Ritter! Er ist tatsächlich hier begraben ... Aber sieh doch, er hat einen fürchterlichen Schlitz in der Schädeldecke!“
Bérenger schwieg. Er betrachtete den Schädel im Kerzenschein aufmerksam von allen Seiten. Dann stieß er einen Pfiff aus.
„Wußte ich es doch ... Das ist nicht der Schädel eines Ritters, Marie“, sagte er fast feierlich, „und es war auch kein Schwertstreich, der diese Verletzung hervorgerufen hat. Wir haben einen Merowingerschädel vor uns, und ich glaube zu wissen, was der auffällige Spalt bedeutet. Es gab eine scheußliche Sitte bei ihnen. Aus rituellen Gründen haben sie mitunter die Schädel ihrer toten Fürsten geöffnet, um das Gehirn herauszuziehen und es zu essen.“
„Das ist ja ekelhaft.Wie konnten sie nur so etwas machen?“ stieß ich hervor.
„Nun, sie gedachten sich damit seine Kräfte einzuverleiben.“ Bérenger nickte nachdenklich. „Ich muss unbedingt Boudet befragen. Der weiß über solche Sachen besser Bescheid als ich. Wenn der Schädel aber tatsächlich aus der Merowingerzeit stammt, dann muss es sich um eine hochgestellte Persönlichkeit gehandelt haben. Hoffet hatte recht mit seiner Vermutung, dass die Münzen aus dem Topf aus merowingischer Zeit stammen. Boudet jedoch ...“
Vorsichtig legte er den Schädel zur Seite und steckte seinen Arm erneut in die Tiefe.
„Wie war das mit den Merowingern?“ fragte ich ihn.
„Also, ihr bekanntester König, der legendäre Merowech, soll halb übernatürlichen Ursprungs gewesen sein. Die Sage berichtet von zwei Vätern. Einmal seinem natürlichen, dem König Chlodio, und zum zweiten von einem Meeresungeheuer, einer Bestie Neptuns. Alle Merowingerfürsten sollen übrigens hellseherische Fähigkeiten gehabt und die Sprache der Tiere verstanden haben. Sie trugen ihre Haare lang, in der Mitte gescheitelt und auf den Schultern gelockt, in ihnen vermutete man das Geheimnis ihrer göttlichen Kräfte. Das alles aber, liebe Marie, gehört natürlich in den Bereich der Legende, wobei man heute die Sage von den beiden Vätern Merowechs so interpretiert, dass seine Mutter möglicherweise eine andere Blutlinie – man spricht gar von einer ´göttlichen Seitenlinie` - in die Ahnenreihe eingeführt hat, dass sich die Franken – die Merowinger waren fränkischen Ursprungs – mit einem fremden Volk, vermutlich jüdischer Abstammung, vermischt haben. Unsere Heimat, Südwestfrankreich also, gehörte einst zum merowingischen Reich. Und sollten wir beide hier irgendwo eine goldene Biene finden, so hätten wir einen Beweis für meine Vermutung, denn ihr
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