Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
zusammenrollen wollte.
„Nein, tut mir leid, Antoine“, sagte Bérenger nach einer Minute. Ein heftiges Zucken seines rechten Augenlides sprach allerdings eine andere Sprache. „Damit kann auch ich nichts anfangen. Wir müssen es wohl einschicken, nach Paris. Dort sitzen Wissenschaftler, die mit solchen Dingen umzugehen wissen.“ Bérenger zog den Zettel ein weiteres Mal zu Rate. „Nun, ich könnte mir allerdings vorstellen, dass es sich um die Botschaft eines Handwerksgesellen handelt. Weißt du, Antoine, die haben früher gerne überall ihre Initialen oder andere Hinweise hinterlassen, um unsterblich zu werden. Bei Gelegenheit zeige ich dir einmal die Einritzungen ganz oben im Glockenstuhl. Aber es war richtig, dass du sofort zu mir gekommen bist. Dafür danke ich dir.“
Antoines Mundwinkel waren bei Bérengers Worten beträchtlich hinabgesunken. Seine einzige Hoffnung war nun noch, dass der Priester sagen würde: „Das Papier ist augenscheinlich nicht viel wert, Antoine, aber du sollst dennoch eine kleine Belohnung bekommen!“
Und mit fast genau diesen Worten schritt Bérenger zu seinem Sekretär. „Zukünftig stöberst du aber nicht mehr alleine in der Kirche herum, versprich es mir, Antoine! Die Herren von der Denkmalpflege würden das gar nicht gerne sehen.“
Antoine schaute schuldbewusst und noch immer ein wenig enttäuscht zu Boden, mitten auf die Pfütze, die er dort hinterlassen hatte. Bérenger öffnete die mittlere Schublade und entnahm der ledernen Kassette eine kleine Summe. Antoine, wie die meisten Leute von Rennes mit Reichtümern nicht gesegnet, freute sich sichtlich. Hoch und heilig versprach er Bérenger, nicht mehr eigenmächtig zu suchen, und stapfte einigermaßen zufrieden davon.
„Kannst du wirklich nichts damit anfangen, Bérenger?“ fragte ich, als wir wieder alleine waren.
Bérenger reagierte nicht. Er starrte auf das Pergament, die Stirn gerunzelt, die buschigen Brauen angestrengt zusammengezogen, Schweißperlen auf der Oberlippe. Ich beobachtete ihn mit Spannung. Die Pfütze konnte warten.
„Marinette, bitte schweig“, brummte er nach einer Weile, obwohl ich kein weiteres Wort gesagt hatte. „Schweig und lass mich für einige Zeit allein. Ich verspreche dir eine ausführliche Erklärung - vielleicht in ein paar Stunden ...“
Als ich mich an der Tür zur Besenkammer noch einmal zu ihm umdrehte, blickte er kurz auf, lächelte und zwinkerte mir verschwörerisch zu.
Ich lief hinüber zu Émilie, die mir schon seit Monaten Sorgen bereitete. Sie war nicht gerade krank, aber von einem Tag auf den andern ziemlich altersschwach geworden. Seit sich vor zwei Wochen ihr Zustand rapide verschlechtert hatte, lag sie lustlos, blass und stark abgemagert im Alkoven, obwohl ich sie täglich aufzumuntern versuchte und mit guter Krankenkost versorgte. Sie verweigerte aber nicht nur häufig die Mahlzeiten, sondern auch mit Vehemenz, einen Arzt zu Rate zu ziehen. „Vergebene Liebesmüh, Marie! Irgendwann muss jeder einmal sterben, und wenn es der Herrgott gut mit mir meint, dann beeilt er sich ein wenig.“
Selbst Bérenger konnte sie nicht umstimmen.
Nachdem ich sie mit einiger Mühe im hölzernen Zuber gebadet, danach gefüttert und wieder zu Bett gebracht hatte, beleuchteten wir noch ein wenig die jüngsten Tratschgeschichten aus dem Dorf. Denn etwas langweilig war ihr schon, vom Warten auf den Tod.
An diesem Abend hörte ich Émilie jedoch nur mit halbem Ohr zu, denn ich war seltsam nervös. Am liebsten hätte ich mich rasch wieder von ihr verabschiedet. Doch Émilie spürte meine Unruhe nicht, sie war ganz in die Vergangenheit eingetaucht.
„Mein Großvater war ein sehr strenger Mann, Marie.“ Sie strich mit ihren runzligen Händen ein ums andere Mal das Laken glatt. „Sehr streng! Bei Tisch durfte niemand reden. ´Reden und Essen geht nicht zusammen`, war seine Devise. Großvater – ich sehe ihn noch heute in seiner prächtigen Uniform vor mir, er war Lanzenreiter gewesen - sprach das Tischgebet, und dann wurde still gegessen, bis die Teller und Schüsseln leer waren. Und nun kommt die Geschichte, die ich dir erzählen will, Marie: Mein Cousin Severin – damals fünf Jahre alt – war ein rechter Tausendsassa. Ein kluges Bürschlein von schmaler, drahtiger Gestalt. Zum Leidwesen seiner Mutter hatte er die Angewohnheit, beim Essen ständig von einem zum anderen zu schauen und dabei unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Meist rührte er gelangweilt in seinem
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