Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
aus, über die ich als Kind genug aus den Missionsbriefen erfahren hatte. Über sie hatte er geflissentlich geschwiegen, der einsame Distriktverwalter auf Freiersfüßen. Ich aber hatte sie im geheimen immer vor Augen gehabt, wenn Simone voller Euphorie aus seinen Briefen las: das Rascheln der heimtückischen Skorpione unter den morschen Holzböden der einfachen Hütten; das hinterlistige Zischen der Giftschlangen, die sich mit Vorliebe in betörend duftenden Hibiskusbüschen verstecken; den Anflug pochender Kopfschmerzen vor regelmäßig wiederkehrenden Fieberanfällen; die schwarzen Fliegen, die wie Trauben an den Augen der kleinen Eingeborenenkinder hängen. Fette weiße Mehlwürmer im Brot ...
Ich war zwar nicht so verwöhnt wie meine Schwägerin aus Lyon, aber ich hatte die nötige Phantasie, mir auch die Schattenseiten eines solchen Lebens im Paradies auszumalen.
Als Bérenger beim Zubettgehen die leeren Wände im Treppenhaus bemerkte, hatte er nur leise vor sich hin gelächelt.
Meiner Veranlagung nach bin ich eine Frau, die sich selbst genügt, aber ich schätze durchaus wie fast jeder gute Freunde, lache und scherze gerne. Niemals jedoch öffne ich mich ganz, Simone nicht und auch nicht Émilie. Möglicherweise wäre es anders gekommen, wenn ich in in Couiza geblieben wäre – und wie Louise geheiratet hätte. Dann hätten wir vielleicht die Vertrautheit, die uns durch unsere Kindheit hindurch begleitet hat, bewahren können. Aber unsere Wege hatten uns auseinandergeführt. Ich wusste das längst. Dennoch war ich meiner ersten und einst besten Freundin auf unerklärbare Weise treu.
Zwei Wochen nach dem Eklat mit Simone stattete ich Louise einen Besuch ab.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, bei dieser Gelegenheit eines meiner neuen eleganten Kostüme anzuziehen, dazu die feschen Knöpfstiefel und Handschuhe, die ich mir aus Paris hatte kommen lassen, nachdem Bérenger die ersten Goldbarren verkauft hatte. Schon als ich damit durchs Dorf stolziert war, hatte ich die neidvollen Blicke der Nachbarinnen wahrgenommen, die mir begegneten.
Auch Louise gingen die Augen über, als ich derart herausgeputzt vor ihr stand. Doch ich genoss es geradezu, von ihr bewundert zu werden, und als sie mich auch noch beinahe händeringend bat, den Schnitt der Kostümjacke kopieren zu dürfen, zeigte ich mich generös und half ihr beim Abzeichnen.
Bei Kaffee und Kuchen erzählte ich ihr dann von Ives Leclerque. Louise lachte und lachte und wollte gar nicht mehr aufhören, sich darüber zu amüsieren.
„So komisch ist das nun wieder nicht, Louise!“
„Ich stelle mir gerade vor, wie du dich als Missionarsfrau im Busch um eine ganze Bande rotznasiger und schlitzäugiger gelber Bälger kümmerst!“
„Du bist ja so etwas von ungebildet, Louise“, sagte ich, bereits ein wenig verschnupft, „erstens wäre ich nicht Missionarsfrau geworden, sondern die Frau eines Distriktverwalters, und zweitens liegt Madagaskar nicht vor Japan oder China, sondern vor der Küste Afrikas. Dort gibt es keine schlitzäugigen gelben Kinder.“
„Ist doch egal, Marie. Schlitzäugig oder nicht, zum Kichern ist diese Vorstellung allemal! Sieh dich doch nur im Spiegel an, du kommst daher wie eine Herzogin!“
„Du hast schon immer an allem etwas auszusetzen gehabt, was mich betrifft, Louise. Ich frage mich langsam, warum ich dich noch immer besuche.“
„Nein, das stimmt nicht, Marie!“ Louise legte ihre Hand auf die meine. „Nur damals, als du dich so kurzfristig entschlossen hast, nach Rennes zu gehen, zu deinem Abbé, da habe ich dich gewarnt. Ich habe dir gesagt, dass du dir dort oben alle Chancen auf einen ordentlichen Ehemann verbaust. Stimmt es?“
Ich nickte.
„Sicher, dir geht es nicht schlecht, wie man sieht, aber hatte ich nicht trotzdem recht? Außer einem Missionar – Verzeihung - ´Distriktverwalter in Madagaskar` konntest du bisher keinen Verehrer auftreiben, obwohl du eine schöne Frau bist und nicht dumm. Willst du Jungfrau bleiben bis an dein Lebensende?“
„Es ist ganz allein meine Angelegenheit, was ich bin oder bleiben will, Louise. Das geht dich gar nichts an, auch wenn du meine beste Freundin bist.“
„Aber eine beste Freundin hat das Recht, der anderen die Wahrheit zu sagen“, entgegnete sie mit Bestimmtheit.
„Nein, nicht immer! Nicht, wenn man die Freundin mit der Wahrheit so verletzt, wie du es manchmal tust. Ich halte dir ja auch nicht ständig vor, dass dein Mann ein ungebildeter Esel ist und
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