Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
würde vielleicht auf seinem Schreibtisch Aufzeichnungen über diesen geheimnisvollen Ort finden, von dem ich im schwarzen Buch lediglich gelesen hatte: „B. durchstreift die ganze Gegend nach ihm ...“ -, fiel mir statt dessen eine Mappe mit fein säuberlich ausgeschnittenen Zeitungsartikeln über die berühmte Sängerin in die Hände. Ich zog einen Kalender zu Rate, begann zu recherchieren, und fand zu meinem Erschrecken heraus, dass sich Bérengers Reisen und die Auftritte der Calvé in vielen Fällen deckten.
Daher fragte ich ihn scheinheilig: „Wen von deinen Freunden aus Paris willst du einladen?“
„Zuerst fällt mir, neben Hoffet, Stéphane Mallarmé ein, der Literat – ich weiß nicht, ob du schon von ihm gehört hast?“
Ich schüttelte den Kopf. „Hast du Bücher von ihm im Schrank?“
„Natürlich! Ich habe seinen ´Herodias` gelesen, und ich kann dir den Anfang seines schönsten Gedichtes ´Der Nachmittag eines Fauns` aufsagen.“
Ich mochte es, wenn Bérenger mit seiner dunklen, warmen Stimme Gedichte las oder rezitierte.
„Ich will sie dauern machen,
diese Nymphen.
Leuchtend ihr leichtes Rosa,
wie es flattert in der schläfrig dumpf betäubten Luft.
Hab ich denn einen Traum geliebt? ...
und so weiter ... Das Gedicht ist lang, aber sehr schön, Marie. Du kannst es selbst lesen. Mallarmés Bücher findest du im Arbeitszimmer, im obersten Regal, rechts in der Ecke. Übrigens hat er einen richtigen Künstlerkopf, wenn es so etwas überhaupt gibt, ein schmales durchgeistigtes Gesicht, intelligente, sensible Augen, aus denen oft der Schalk blitzt. Dazu hängt ihm ein gewaltiger Schnauzer über die Lippen. Oh, was haben wir gelacht über ihn! Mitte der achtziger Jahre hat er in Paris die sogenannten ´Dienstage` gegründet, einen Treffpunkt der bedeutendsten Schriftsteller der Welt ...“
„Und wer wird noch kommen?“
„Nun, Claude Debussy vielleicht, wenn er Zeit hat. Ja, auch er gehört zu meinen Freunden“, sagte Bérenger stolz. „Claude Debussy, der berühmte Komponist, ist genau das Gegenteil von Mallarmé, ein dunkler, ernst blickender Mann, aber ebenfalls sehr intelligent. Ja, über alle Maßen ... Und seine Musik ... ach!“ Bérenger seufzte und setzte an, einige Takte zu summen.
„Weißt du was, Marinette, wenn die Villa fertig ist, kaufen wir uns auch einen dieser neuartigen Walzen-Phonographen, auf dem die Töne in Wachs eingraviert sind. Edison hat sie erfunden. Ich habe schon welche in Paris gesehen. Dann kannst du Debussys Musik mit eigenen Ohren hören, Kleine. Ach, Paris, Paris ...“, schwärmte er. „Stell dir vor, Marie, es gibt mittlerweile fünftausend Telefone in dieser Stadt! Bis wir in Rennes das erste bekommen werden, vergehen noch mindestens hundert Jahre.“
„Und wer soll noch kommen?“
„Der Graf von Larochefoucauld beispielsweise – ein reputierlicher Mann - und noch einige andere. Die Namen werden dir nicht viel sagen. Sie gehören zum Kreis um Emil Hoffet. Wir schreiben uns regelmäßig.“
„Hast du all diesen Fremden vom Schatz erzählt?“
„Nein, nur von den Pergamenten – aus diesem Grunde war ich doch so oft in Paris. Zu deiner Beruhigung versichere ich dir ein weiteres Mal, dass außer mir selbst nur du allein weißt, wo sich unser Gold befindet. Im übrigen sind die Freunde aus Paris nur an den verschlüsselten Texten interessiert und neuerdings natürlich an dem Testament des Templers. Das kommt daher, dass sie ein Faible haben für obskure Geheimnisse und esoterischen Kram.“
„Emma Calvé auch?“
„Wie kommst du jetzt auf Emma Calvé?“
„Weil du sie vergessen hast in deiner Aufzählung!“
„Ach weißt du, sie hält sich nicht ständig in Paris auf. Auch sie ist sehr reich. Kürzlich hat sie sich sogar ein Schloss in der Nähe von Millau gekauft, etwas mehr als eine Tagesreise von hier entfernt.“
„Tatsächlich?“ Ich schüttelte den Kopf, mein Erschrecken dadurch hoffentlich gut verbergend.
„Ja, auch Madame Calvé beschäftigt sich leidenschaftlich mit Esoterik und Okkultem, leider, dazu kommt ein auffallendes Interesse am Hinduismus, dem Glauben der Inder. Weißt du, es sind eben alles hochgebildete und anspruchsvolle Leute.“
„Ist diese Esoterik nicht vom Vatikan verboten? Was versteht man eigentlich darunter?“ Wenn schon Emma so gut darüber Bescheid wusste, hatte wohl auch ich das Recht auf Information.
„Verboten kann man nicht gerade sagen, Marie. Auch das Christentum kann durchaus auf
Weitere Kostenlose Bücher