Marie und die Meerjungfrau (Das Geheimnis der Zaubermuscheln)
schon vor dem Sekt aus, als hätte sie ein wenig zu viel getrunken.
Ihre Eltern hatten vor lauter Freude und Aufregung nicht mitbekommen, wie still Marie geworden war. Ungläubig blickte sie auf den blauen Brief auf dem Tisch, der das alles angerichtet haben sollte. Dann beugte sie sich vor, nahm ihn und begann zu lesen:
Liebe Familie Sandmann,
wenn Sie diese Zeilen lesen, werden wir in der Stadt sein und unser erstes Enkelkind in den Armen halten. Wir sind überglücklich, dass unsere Tochter und ihr Mann uns endlich zu stolzen Großeltern gemacht haben, und es soll, wie sie uns versichern, nicht bei diesem einen Enkelkind bleiben.
Aus diesem Grund haben meine Frau und ich beschlossen, bei unserer Familie zu bleiben.
Mit zunehmendem Alter ist es uns immer schwerer gefallen, die Pension auf der Insel zu führen, und dennoch würde es uns das Herz brechen, sie an Fremde verkaufen zu müssen, die keinerlei Bezug zum Ort haben.
Wir kennen Sie, seit Ihre kleine Tochter Marie geboren wurde, und es war uns immer eine große Freude, Sie über den Herbst bei uns in der Pension zu haben. Es war nicht zu übersehen, wie sehr Ihr Aufenthalt Maries gesundheitlichen Zustand verbessert hat, und auch unsere Pension verdankt Ihnen — trotz salziger Meeresluft und Winterstürmen — den tadellosen Zustand, der uns und unseren Gästen jedes Jahr aufs Neue eine Freude war.
Wir wissen, dass Sie verstehen, was uns dieses Haus bedeutet.
Die Pension hat uns zu reichen Menschen gemacht, und nun, da uns unsere Tochter ein Enkelkind geschenkt hat, fühlen wir uns restlos glücklich. Es würde uns viel bedeuten, einen Samen unseres Glücks an Ihre kleine Familie weitergeben zu dürfen. Wir hoffen, dass Sie uns aus diesem Anlass eine große Freude machen und die Pension als Geschenk annehmen. Auch wenn wir nicht mehr auf der Insel wohnen werden, hat doch alles, was wir uns erträumt haben, dort begonnen. Wir wünschen Ihrer Familie, dass es Ihnen auch so ergehen wird.
Herzlich,
Anneliese und Emanuel H. Rosenbusch
Langsam ließ Marie den Brief auf den Tisch sinken. Dann stand sie auf und verließ das Zimmer. Ihre Hand hielt sie über der Brokatschleife, genau dort, wo die Muschel steckte.
Verzweiflung
M arie spürte den knirschenden Sand unter ihren Schuhen nicht, als sie zurück zum Felsen lief, wo sie die Muschel gefunden hatte. Die Sonne war bereits untergegangen, aber der Himmel über dem Horizont leuchtete noch in einem strahlenden Orange-Violett, das nach außen in dunkles Blauschwarz überging. Über ihr funkelten die Sterne und in der Ferne glitzerte das Wasser der herannahenden Flut.
Der Sand am Strand war nass und schwer. Trotz der dicken Jacke fröstelte es Marie ein wenig zwischen den feuchten Felsen, die sich jetzt fast nur noch als dunkle Schatten gegen den Abendhimmel abhoben. Der Geruch von Algen hatte zugenommen und überall knisterte und tropfte es, als würde der Strand das Meer herbeiflüstern wollen.
Marie beachtete das alles nicht. Sie dachte an den blauen Brief auf dem Küchentisch, an den Sekt und an die Pension, die jetzt ihren Eltern gehören sollte. Sie sah ihre lachenden Gesichter vor sich und überlegte, dass sie ihre Eltern noch nie so glücklich gesehen hatte. Sie wollte ihre Eltern unbedingt glücklich sehen, aber warum nur musste es auf diese Art geschehen? Warum hier und nicht in der Stadt? Warum passierte das alles? Warum musste sie sich dabei so unglücklich fühlen? Warum? Warum?
Was war passiert? Hatte die Muschel sich geirrt? Konnten Zauberdinge sich überhaupt irren?
Vorsichtig zog Marie den kalten, glasartigen Gegenstand unter ihrer Brokatschleife hervor und hielt ihn mit beiden Händen vor ihr Gesicht.
Sofort fingen die kleinen Leuchtpunkte an, wild auf der Oberfläche zu tanzen und sich in ihrer Spiegelung zu sammeln, und dann … dann lächelte eine ältere Marie ihr aus der Muschel zu. Sie hatte jetzt ein zartrosa-farbenes Tanzkostüm an, dessen Oberteil mit einem Kranz heller Federn besetzt und über und über mit Glitzersteinchen und Perlen verziert war. Die Haut der Ballerina war wie Porzellan, ihr Mund glänzte lachsrosa und ihr Haarknoten war mit Federn und Silber geschmückt. Marie hatte noch nie etwas so umwerfend Schönes gesehen.
Die Ballerina aus der Muschel, die so aussah wie Marie, lächelte sie an, schloss dann die Augen, neigte den Kopf zur Seite und fing an, zu einer leisen fernen Melodie zu tanzen, die Marie irgendwie bekannt vorkam. Daraufhin löste das Bild sich auf und
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