Marie und die Meerjungfrau (Das Geheimnis der Zaubermuscheln)
Marie sah wieder funkelnde Sterne, die sich zwischen einigen Wolken und dem dunkler gewordenen Himmel in der Muschel spiegelten.
Als Marie sich wieder gefangen hatte, schüttelte sie energisch den Kopf. Das war alles so falsch! Wie konnte die Muschel ihr solche Hoffnungen machen, wo sie doch alle wussten, dass es nichts weiter als ihr Traum war. Ein Traum und nicht die Wirklichkeit! Nur der Traum eines kranken Mädchens.
„Du bist so gemein!”, flüsterte sie der Muschel zu. „Wie kannst du mir das antun? Du hast mir Hoffnung gemacht. Warum nur? Jetzt tut es noch mehr weh als vorher.”
Da war es wieder, ihr Gesicht, als wunderschöne Ballerina. Es schaute sie fragend aus der kalten glasartigen Muschel an.
„Hör auf!”, schrie Marie ihr Spiegelbild an. „Ich kann keine Ballerina werden! Niemals! Ich bin zu krank, schon vergessen? Ich darf nicht springen und nicht tanzen und nicht glücklich sein! Außerdem lebe ich nun auf einer einsamen Insel … einer einsamen Insel mitten im Nichts!”
Ein starker Hustenanfall überkam sie. Zwischen wütenden Krämpfen schrie Marie heiser weiter:
„Ich werde keine Ballerina werden, auch wenn du es mir tausendmal zeigst! Viel eher werde ich von nun an auf diesem Felsen sitzen und unglücklich auf das Meer hinausschauen, bis ich sterbe!”
Erneut überkam sie ein schmerzhafter Hustenanfall.
Als sie wieder in die Muschel schaute, war die Ballerina verschwunden. Stattdessen sah Marie sich am Strand liegen. Ihr Körper war seltsam angewinkelt und so weiß und fahl, wie der helle Sand unter ihr. Das Tüllkleidchen, das nass an ihrem kleinen Körper hing, war schmutzig und in Streifen zerrissen, ein Ärmel und mehrere der kleinen Knöpfe fehlten. Auch der rechte Schuh war nicht zu sehen. Ihre nassen Haare klebten ihr wirr und mit Algen verheddert im Gesicht — ihre Augen waren offen und leer. Neben ihrem Körper lag Robbie und fiepte leise; in seinem Maul hielt er ganz vorsichtig die nasse Brokatschleife, die der Vater ihr am Morgen geschenkt hatte.
Marie wurde kalt ums Herz, als sie dieses Bild von sich sah. Sie war starr vor Entsetzen. Sie merkte nicht, wie ihr die Muschel langsam aus der Hand glitt, sie merkte nicht, wie die Muschel fiel und sie merkte auch nicht, wie die Muschel auf den Felsen traf und in tausend kleine Stücke zerbrach. Erst als sie das Geräusch der zerschellenden Muschel hörte, wie ein zerberstendes Glasglockenspiel, kam sie wieder zu sich. Sie schaute herunter und sah die Splitter, die nicht mehr wie Eis, sondern wie ganz normale weiße Muschelstücke wirkten.
„Oh nein, NEIN!”, jammerte Marie entsetzt.
Ohne auf ihr Kleidchen zu achten, kniete sie sich auf dem Felsen nieder und versuchte eilig, die Muschelstücke zusammenzutragen, solange sie in der Dunkelheit noch zu erkennen waren.
„Vielleicht kann man sie noch kleben?”, flüsterte sie sich zu, ohne wirklich daran zu glauben. Sie sammelte und sammelte und der Wind blies stärker und stärker. Schwarze Wolken verdeckten nun beinahe alle Sterne. Marie schaute auf ihre Muschelreste und merkte, dass noch ein großes Stück fehlte. Hastig steckte sie, was sie gefunden hatte, in ihre Jackentasche und kroch auf allen Vieren tastend auf dem Felsen herum. Sie wollte unbedingt das noch fehlende Stück finden, konnte es aber nirgendwo entdecken.
Erschöpft setzte sie sich auf den kalten Stein. Ihr feines Tüllkleidchen war schmutzig geworden und vorne über den Knien an mehreren Stellen zerrissen.
Die Sturmflut
E s war nun zu dunkel geworden, um nach dem letzten Stück der Muschel zu suchen. Der fahle Mondschimmer wurde von schwarzen Wolken verdeckt, die der aufziehende Sturm über den Himmel jagte. Noch spürte Marie den starken Wind nicht, noch war er nur oben bei den Wolken; noch war es still, selbst die Wellen schwiegen erwartungsvoll. Marie saß auf dem Felsen und weinte bitterlich.
Sie weinte über die Muschel, die kaputt gegangen war und ihren Traum beim Zerschellen mit sich genommen hatte. Sie weinte, weil sie sich fühlte, als sei nicht die Muschel, sondern sie selbst zerbrochen, als gäbe es von ihr nur noch einige scharfkantige, wertlose Reste — unvollständig. Seelenlos.
Die gesamte Traurigkeit ihres Lebens brach aus ihr heraus.
Durch ihre Tränen sah sie nicht, wie das letzte bisschen Licht am Horizont verschwand. Sie sah auch nicht, wie die Flut schweigend hereinbrach und langsam den Stein umspülte, auf dem sie saß. Weder hörte sie ihre Eltern am Strand nach ihr rufen,
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