Marienplatz de Compostela (German Edition)
Vinaigrette ließ er sich nicht nehmen. Er können keine weinenden Frauen mehr ertragen, sagte er. Sie entschieden sich gegen die Pute und für Thunfisch.
»Sie fragten mich vorhin nach einem besonderen Ort an der Isar und ich habe, das muss ich gestehen, immer wieder in meinem Gedächtnis nachgeforscht, während wir uns über so viele Dinge unterhalten haben. Nun ist es leider so, dass die Fabrik meiner Familie«, er wies mit dem Messer aus dem Fenster, »übrigens gar nicht weit von hier, weil mein Urgroßvater nicht zu Fuß gehen wollte, aber auch nicht zu lange mit dem Pferdegespann unterwegs sein wollte, also diese Fabrik ist für mich ein solcher besonderer Ort. Allerdings nur für mich, verstehen Sie. Kein Mensch interessiert sich heute noch dafür. Sie verfällt, eine Industrieruine. Architektonisch sehr ansprechend, aber … nun gut, was ich sagen will. Diese Fabrik ist, was meine Vorstellung angeht, derart beherrschend, in einer erschreckenden Art und Weise dominant, das ist mir wieder einmal bewusst geworden, sodass sie die Vorstellung an alles andere in mir geradezu auslöscht. Aber das ist nur für mich so. Wie gesagt, kein anderer Mensch kann sie wahrnehmen, es sei denn er steht in dem Gestrüpp und sieht auf das Mauerwerk. Man kann sie weder hören noch riechen, schmecken ja gar nicht und nur ich kann sie fühlen, weil sie ein ungeliebter Teil von mir ist.«
Lara Saiter nahm die Eier aus dem kochenden Wasser. »Die haben jetzt lange genug gekocht.«
Er unterbrach seine Arbeiten. Die Schalotten mussten exakt geschnitten werden, Würfel, deren Kantenlänge nicht größer als zwei Millimeter betrugen. Erst dann waren sie für eine Vinaigrette geeignet. »Haben Sie mir zugehört?«
»Ja. Ich habe gerade darüber nachgedacht. Mussten Sie in dieser Fabrik arbeiten und haben deswegen diese Abneigung?«
Er lachte. »Nein. Gott behüte. Niemals. Sie gehörte uns ja nicht.«
Sie drehte sich um und hörte auf die Eier zu schälen und zu schneiden. »Aber ich denke es ist die Fabrik Ihrer Familie?«
»Schon. Aber es kam zu einer Aufspaltung. Mein Urgroßvater hatte zwei Kinder. Einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn erbte die Fabrik, so wie sich das damals gehörte und nicht anders denkbar war, in der Gründerzeit. Die Tochter war gründlich missraten. Sie hatte eine gute Ausbildung erhalten, sehr musisch war sie – spielte wohl sehr gut Klavier und Geige und hatte ihr Herz an die Künste verloren. Ende des neunzehnten Jahrhunderts geriet sie in die Münchner Malerszene – Lenbach, Busch, Heyse, Kaulbach. Sie heiratete einen Geschäftsmann, unterhielt nebenzu aber zwei, drei heftige Liebschaften, kämpfte für die Frauenrechte und trieb ihren Vater mit ihren Eskapaden an den Rand der Verzweiflung. Es gibt herrliche Briefe, die ich manchmal noch lese. Er hat sie trotz allem sehr geliebt, das ist mir inzwischen deutlich geworden, hat sie finanziell gut ausgestattet, was zum Streit mit ihrem Bruder führte. Sie verstehen – das alte Lied, Familiengeschichten eben.«
»Klingt interessant, diese Frau … und die Familie.«
Er lachte und wischte sich mit einem Küchenhandtuch die Tränen aus den Augen. »Ja, sicher. Meine Schwester und ich … wir kommen von diesem Familienzweig her. Unsere Großmutter war also das Luder. Die Fabrik wechselte in den Besitz ihres Bruders und hat die Familie immer beherrscht. Auch jenen Teil, der für sie nicht mehr Verantwortung trug. Sie war immer Thema, bei Familientreffen, bei wirtschaftlichen Krisen, während der Kriegszeiten? Obwohl wir sie geradezu hassten, da sie das steingewordene Sinnbild des anderen Familienzweigs war – wir wurden das Ding nicht los. Sie verstehen?«
»Sehr gut.«
»Zum Eklat kam es, als mein Urgroßvater in den Zwanzigerjahren starb und das Anwesen hier ausgerechnet meiner Großmutter vermachte. Au weh! Da war der Teufel los! Die Geschichten darum herum sind ein wesentlicher Teil der Familienüberlieferung. The fall of the house of …«, er lachte.
»Wohnte denn der Bruder mit seiner Familie hier und musste daraufhin ausziehen?«, fragte sie.
»Nein, nein. Nicht alle haben im Ersten Weltkrieg ihren Besitz verloren und einige haben ganz gut verdient, sofern ihre Dummheit nicht groß genug war, Kriegsanleihen zu kaufen. Unsere Familie – beide Zweige – haben sich sehr gut über die schlimmen Zeiten gebracht.« Er wies mit der Hand zum Haus. »Hier draußen? Das war nicht gesellschaftsfähig. Zu weit weg von der Stadt und den kurzen
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