Marionetten
Polizisten aus dem Schatten einer Hecke, um den Anschluß nicht zu verpassen.
»Sie gestatten, Sir?«
Brue gestattete. Schultern, Revers, Achselhöhlen, Seitentaschen, Rücken, Hüften, Schritt, Waden, Knöchel, seine sämtlichen Zonen, erogen oder nicht. Und auf Betreiben des zweiten Mannes, der seine Zigarette inzwischen ausgetreten hatte, auch das Innenleben seiner Brusttaschen. Es ist ein stinknormaler Füller, hatte Lantern gesagt. Sieht aus wie ein Füller, schreibt wie ein Füller, hört zu wie ein Füller. Und wenn sie ihn auseinanderschrauben, bleibt es trotzdem ein Füller.
Sie schraubten ihn nicht auseinander.
Jäh hervorbrechendes Sonnenlicht brachte alles zum Leuchten. In dem überwucherten Vorgärtchen saß eine dicht verhüllte, schwarzgewandete Frau in einem Liegestuhl und wiegte ein Baby. Georgie in sieben Monaten. Die Haustür stand offen. Ein kleiner Junge mit Scheitelkäppchen und langem weißem Hemd spähte auf halber Höhe dahinter hervor. Vielleicht bekommt sie ja einen Buben.
»You are most welcome, Mr. Brue, Sir«, deklamierte der Knirps und grinste dabei von einem Ohr zum anderen.
Aus dem Windfang trat Brue direkt in ein Wohnzimmer. Zu seinen Füßen spielten drei weißgekleidete kleine Mädchen mit einem Lego-Bauernhof, während ein auf stumm geschalteter Fernseher goldene Kuppeln und Minarette zeigte. Vor der Treppe stand ein bärtiger junger Mann in langem Streifenhemd und Khakihosen.
»Mr. Brue, Sir, ich bin Ismail, Dr. Abdullahs Privatsekretär. Seien Sie willkommen«, sagte er und legte die rechte Hand aufs Herz, bevor er sie Brue hinstreckte.
* * *
Wenn fünf Prozent von Dr. Abdullah schlecht waren, wie Lantern behauptete, dann waren es fünf Prozent von sehr wenig. Er war winzig, ein väterlich wirkender, gütiger kleiner Glatzkopf mit hellen zwinkernden Augen, buschigen Brauen und federndem Schritt. Lebhaft kam er hinter seinem Schreibtisch hervorgesprungen, umschloß Brues Hand mit seinen beiden und hielt sie fest. Er trug einen schwarzen Anzug mit weißem, bis zum Kragen zugeknöpftem Hemd und Turnschuhe ohne Schnürsenkel.
»Sie sind der große Mr. Brue«, begann er in sehr schnellem, sehr versiertem Englisch. »Ihr Name ist uns nicht unbekannt, Sir. Ihre Bank hatte einmal Verbindungen in den arabischen Raum, keine guten, aber Verbindungen. Vielleicht haben Sie das vergessen. Das ist eines der großen Probleme unserer modernen Welt, wissen Sie. Das Vergessen. Die Opfer vergessen nie. Fragen Sie einen Iren, was ihm die Engländer 1920 angetan haben, und er wird Ihnen die Namen sämtlicher Getöteter aufzählen, mit Datum und Uhrzeit. Fragen Sie einen Iraner, was ihm die Engländer 1953 angetan haben, und er kann es Ihnen sagen. Sein Kind kann es Ihnen sagen. Sein Enkel kann es Ihnen sagen. Selbst sein Urenkel wird es Ihnen noch sagen können, falls er einen hat. Aber fragen Sie einen Engländer …?« In gespielter Ahnungslosigkeit warf er die Hände in die Luft. »Wenn er es jemals wußte, hat er es vergessen. Schaut nach vorne! sagt ihr uns. Schaut nach vorne! Vergeßt, was wir euch angetan haben. Morgen ist ein neuer Tag! Aber das stimmt nicht, Mr. Brue.« Er hielt immer noch Brues Hand fest. »Das Morgen geht aus dem Gestern hervor, verstehen Sie? Das ist das, was ich Ihnen zu sagen versuche. Und aus dem Vorgestern. Wer die Geschichte ignoriert, ignoriert den Wolf vor der Tür. Bitte. Setzen Sie sich doch. Sie hatten eine gute Fahrt, hoffe ich?«
»Alles wunderbar, vielen Dank.«
»Es war nicht wunderbar, es hat geregnet. Jetzt scheint kurzfristig die Sonne. Im Leben müssen wir uns den Tatsachen stellen. Meinen Sohn Ismail haben Sie ja kennengelernt, meinen Sekretär? Das hier ist Fatima, meine Tochter. Nächsten Oktober, so Gott will, beginnt Fatima ihr Studium an der London School of Economics, Ismail wird seine Schritte in den Fußstapfen seines Vaters nach Kairo lenken, und ich werde ein einsamerer Mann als zuvor sein, aber um so stolzer. Haben Sie Kinder, Sir?«
»Eine Tochter.«
»Dann sind auch Sie gesegnet.«
»Aber nicht so gesegnet wie Sie, wie mir scheint!« sagte Brue herzlich.
Wie ihr Bruder war auch Fatima einen Kopf größer als ihr Vater. Sie hatte ein breites, schönes Gesicht. Der braune Hijab fiel ihr um die Schultern wie ein Cape.
»Guten Tag«, sagte sie, senkte dann die Lider und legte zum Gruß die rechte Hand aufs Herz.
»Die Amerikaner sind noch schlimmer als Ihr Briten, aber sie haben wenigstens eine Entschuldigung«, fuhr
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