Marionetten
Allah nicht gestattet, werden wir sie dennoch aufnehmen. Stimmen Sie mir zu, Annabel?«
»Es klingt wunderbar. Etwas wirr, aber wunderbar«, sagte sie lächelnd.
»Auch dieses Hilfswerk bewundere ich. Ich habe nicht davon gehört, aber ich bewundere es. Die Schulbildung unserer Kinder ist auf unserem schweren Weg in die Unabhängigkeit zu kurz gekommen.«
»Warum kreuzen Sie nicht alle an, die Ihnen zusagen? Haben Sie einen Stift da?«
»Ich bewundere sie alle. Und ich bewundere Sie, Annabel.«
Er faltete die Liste zusammen und steckte sie ein.
Sag es nicht, flehte sie von ihrem Platz am anderen Ende des Lofts. Bring mich nicht dazu, Dinge zu versprechen. Mal mir keinen Traum aus, der doch nicht wahr werden kann. Ich bin nicht stark genug dafür. Aufhören!
»Wenn Sie erst zum wahren Glauben übergetreten sind, welcher die Religion meiner Mutter und meines Volkes ist, und wenn ich ein bedeutender Arzt bin, der eine westliche Approbation und ein Auto wie Mr. Brue hat, werde ich all meine außerberufliche Zeit Ihrem Wohlbehagen widmen. Das ist mein Versprechen an Sie, Annabel. Wenn Sie nicht zu schwanger sind, werden Sie als Schwester in meinem Krankenhaus arbeiten. Ich habe bemerkt, daß Sie sehr mitfühlend sind, wenn Sie nicht Ihr strenges Gesicht machen. Aber erst müssen Sie die Ausbildung absolvieren. Ein Abschluß in Jura reicht nicht aus, um Krankenschwester zu werden.«
»Nein, wahrscheinlich nicht.«
»Hören Sie mir zu, Annabel? Bitte konzentrieren Sie sich.«
»Ich habe nur die Uhr im Blick, das ist alles. Mr. Brue will, daß wir ein ganzes Stück vor Dr. Abdullah da sind. Sie müssen Ihr Erbe erst offiziell antreten, selbst wenn Sie das Geld nicht für sich wollen.«
»Das ist mir klar, Annabel. Ich bin im Bilde über diese Formalien. Darum kommt mich seine Limousine ja rechtzeitig hier abholen. Werden Melik und Leyla der Zeremonie auch beiwohnen?«
»Nein. Sie sind in der Türkei.«
»Dann bin ich traurig. Sie würden Hoffnung schöpfen aus dem, was heute passiert. Ich werde unseren Kindern eine breite und vielseitige Bildung auf den Weg geben. Nicht in Tschetschenien, leider, die Gefahren sind zu groß. Erst sollen sie den Koran studieren, dann Literatur und Musik. Sie sollen zu Meistern der fünf Vortrefflichkeiten herangebildet werden. Wenn sie versagen, werden sie von uns nicht bestraft. Wir werden sie lieben und oft mit ihnen beten. Ich selbst bin nicht bewandert in den Schritten, die zu Ihrer Bekehrung nötig sein werden. Ein weiser Imam muß diese Aufgabe übernehmen. Wenn ich mir eine persönliche Meinung über diesen Dr. Abdullah gebildet habe, dessen Schriften ich schätze, werde ich feststellen, ob er der rechte Mann dafür ist. Ich habe Sie nie beleidigt, Annabel.«
»Ich weiß.«
»Und Sie haben nie versucht, mich zu verführen. Es gab Momente, da hatte ich Angst, Sie stünden kurz davor. Aber Sie haben sich beherrscht.«
»Wir sollten uns langsam fertigmachen, meinen Sie nicht?«
»Wir wollen Rachmaninow hören.«
Und er ging hin und drückte den Knopf. Der CD-Spieler war zu der Lautstärke hochgedreht, die Issa gern einstellte, wenn er allein war. Gewaltige Akkorde dröhnten zu den Dachbalken empor. Issa drehte sich zum Fenster um, und sie beobachtete seine Silhouette, während er sich methodisch zum Aufbruch kleidete. Karstens Lederjacke hatte ihre Faszination für ihn verloren. Er trug lieber seinen alten schwarzen Mantel und das Scheitelkäppchen und hängte sich die gelbe Satteltasche über die Schulter.
»So, Annabel. Sie folgen mir bitte. Ich werde Sie beschützen. So will es unsere Tradition.«
Aber auf der Schwelle blieb er wie angewurzelt stehen und starrte sie an, mit einer so überwältigenden Rückhaltlosigkeit, daß sie schon einen Moment dachte, er würde die Tür wieder zumachen und sie würden für immer hier wohnen bleiben, in dieser Welt, in der es nur sie beide gab.
Und vielleicht hoffte sie es beinahe, doch da war er schon ins Treppenhaus hinausgetreten, und es war zu spät. Vor dem Haus stand eine große schwarze Limousine. Der Chauffeur, ein kräftiger blonder Jüngling, hielt ihnen die Tür zum Fond auf. Annabel stieg ein. Der Chauffeur wartete, daß Issa ihr folgte, aber er machte keine Anstalten. Der Chauffeur öffnete ihm die Beifahrertür, und er nahm vorne Platz.
* * *
Brue marschierte voran in sein Büro, gefolgt von Issa und als letzter Annabel in ihrer schwarzen Anwaltskluft und dem Kopftuch. Issa, das war ihm gleich aufgefallen, war
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