Marionetten
höre ich, ob es ihr gutgeht. Sie hatte schon mal ein Baby, aber es ist gestorben. Dieses neue wird nicht sterben, da bin ich sicher. Ich weiß, daß es nicht sterben wird. Ich komme vom Thema ab, tut mir leid. Aber ich dachte, wenn das alles hier vorbei ist, nehme ich mir ein Weilchen frei und fliege rüber und besuche sie. Vielleicht bleibe ich sogar eine Zeitlang dort. Die Bank ist am Ende, wenn Sie’s genau wissen wollen. Ich kann nicht behaupten, daß sie mir fehlen wird. Alles hat seine Zeit. Jedenfalls, was ich mir dachte, ist folgendes: Wenn ich erst einmal dort bin und mich ein bißchen eingerichtet habe und wenn es bei Ihnen auch wieder rundläuft, hätten Sie ja vielleicht Lust, für ein paar Tage zu uns zu stoßen, auf meine Kosten selbstredend – auch in Begleitung, wenn Sie möchten –, und Georgie und ihr Baby kennenzulernen. Und ihren Mann, der bestimmt grauenhaft ist.«
»Ja, dazu hätte ich Lust.«
»Sie brauchen jetzt nicht zu antworten. Es ist kein Annäherungsversuch. Denken Sie einfach darüber nach. Das wollte ich nur sagen. So, wechseln wir besser ins Deutsche zurück, bevor unsere Zuhörer völlig die Nerven verlieren.«
»Ich komme gern«, sagte sie, immer noch auf russisch. »Ich habe auf jeden Fall Lust. Da muß ich nicht erst nachdenken. Ich weiß es.«
»Wunderbar«, schloß er, auf deutsch, und sah auf die Uhr, wie um zu überprüfen, wie lange er von seinem Schreibtisch weggewesen war. »Einen letzten Punkt gäbe es noch anzusprechen, und das ist Dr. Abdullahs Wunschliste für Tschetschenien. Er hat allgemeine Vorschläge, was die muslimische Gemeinschaft als Ganzes betrifft, aber das hier ist eine kurze Liste mit Empfehlungen speziell für Tschetschenien. Er dachte, unser Klient würde sie vielleicht gern vorab schon durchlesen. Sich damit die Zeit bis nachher verkürzen. Darf ich sagen, daß ich mich darauf freue, Sie beide um zweiundzwanzig Uhr bei mir zu sehen?«
»Das dürfen Sie«, sagte sie. »Ja, das dürfen Sie«, und mit einem emphatischen Nicken drehte sie sich um und ging steif zur Drehtür, wo ihre Hüterinnen schon auf sie warteten.
»Nichts Aufwieglerisches, Ian«, versicherte Brue Lantern leger, als er ihm Issas Reisepaß zurückgab. »Wir mußten nur mal kurz unseren freien Willen von der Leine lassen.«
* * *
Es war halb neun, als Annabels Wächterinnen sie am Hafen absetzten und sie sich allein auf den Weg hinauf in ihre Dachwohnung machte. Ein letztes Mal, dachte sie. Ein letztes Mal würde Issa ihr Gefangener sein und sie seiner. Ein letztes Mal würden sie zusammen russische Musik hören, während in dem Bogenfenster die.Lichter des Hafens flackerten. Ein letztes Mal würde sie ihn für sich haben als ihr Kind, ihr kapriziöses, immerhungriges Kind, als ihren unberührbaren Geliebten und als ihren Lehrer im Leiden und Hoffen. In einer Stunde würde sie ihn Brue und Dr. Abdullah übergeben. In einer Stunde würden Günther Bachmann und Erna Frey bekommen, was sie sich so sehnlich wünschten. Mit Issas Hilfe würden sie mehr Unschuldigen das Leben gerettet haben, als Fluchthafen es in hundert Jahren schaffte – aber wie ließen sich Ungetötete zählen?
»Das sind Dr. Abdullahs Empfehlungen?« fragte Issa in herrischem Tonfall. Er hatte sich unter das Deckenlicht in der Raummitte gestellt, um besser lesen zu können.
»Eine Auswahl. Er hat Tschetschenien ganz oben auf die Liste gesetzt. Wie Sie es gewünscht haben.«
»Er ist klug. Das Hilfswerk, das er hier nennt, ist in Tschetschenien sehr bekannt. Ich habe von diesem Hilfswerk gehört. Es bringt unseren tapferen Kämpfern in den Bergen Medikamente und Verbandszeug. Auch Betäubungsmittel. Wir werden dieses Hilfswerk unterstützen.«
»Gut.«
»Aber als allererstes müssen wir die Kinder in Grosny retten«, sagte er, nachdem er weitergelesen hatte. »Und dann die Witwen. Junge Frauen, die ohne eine Mitschuld entehrt worden sind, sollen nicht bestraft werden, sondern, so Gott will, in eigens für sie eingerichteten Heimen untergebracht werden. Selbst wenn sie vielleicht eine Mitschuld trifft, sollen sie trotzdem aufgenommen werden. Das ist mein Wunsch.«
»Gut.«
»Keine soll bestraft werden, auch nicht von ihrer Familie. Wir werden ausgebildete Betreuer für diese Frauen einsetzen.« Er blätterte um. »Kinder von Märtyrern sollen bevorzugt werden, das ist Allahs Wille. Aber nur unter der Bedingung, daß ihre Väter keine Unschuldigen getötet haben. Wenn sie Unschuldige getötet haben, was
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