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Marionetten

Marionetten

Titel: Marionetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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sich beide Bewachungsteams gezwungen sahen, alle vorgeschobenen Tätigkeiten einzustellen und offen zu ihnen herüberzustarren.
    »Oder gibt es Abweichungen auf Ihrer Seite?« fuhr er lässig fort. »Versionen vergleichen ist ja das A und O bei solchen Leuten. Sie leiden nicht gerade an übertriebener Wahrheitsliebe, um es mal so zu sagen. Also mir ist folgender Ablauf bekannt: Sie bringen Ihren Mandanten in die Bank, er wickelt seine Geschäfte ab und wird im Anschluß – auf direktem Wege, wie man mir versichert hat – an einen Ort gebracht, dessen Adresse ich nicht wissen darf, wo er irgendwelche Formulare in dreifacher Ausfertigung unterzeichnen wird und seinen deutschen Paß ausgehändigt bekommt. Genau diesen Paß, der hier vor uns liegt und der dann mit sofortiger Wirkung Gültigkeit erlangt. Stimmt das mit Ihrer Version überein? Oder haben wir ein Problem?«
    »Es stimmt überein«, sagte sie.
    Sie nahm den Paß und inspizierte ihn. Erst das Photo, dann ein paar unverfängliche Ein- und Ausreisestempel, keiner davon auffällig frisch. Dann das Ablaufdatum, drei Jahre und sieben Monate vom jetzigen Zeitpunkt gerechnet.
    »Ich muß ihn begleiten, wenn er ihn abholt«, sagte sie, und beglückt hörte er in ihrem Ton die alte Entschiedenheit.
    »Aber natürlich müssen Sie das. Als seine Anwältin sind Sie dazu verpflichtet.«
    »Er ist krank. Er braucht eine Auszeit.«
    »Natürlich. Und nach dem heutigen Abend kann er sich soviel Zeit nehmen, wie er nur will«, sagte Brue. »Für Sie habe ich übrigens auch ein kleines Dokument.« Er nahm den Paß wieder an sich und drückte ihr ein unverschlossenes Kuvert in die Hand. »Machen Sie sich jetzt nicht die Mühe, es anzuschauen. Keine Angst, es ist kein kompromittierendes Schmuckstück. Nur ein Blatt Papier. Aber eins, das auch Sie freispricht. Keine strafrechtliche Verfolgung, kein sonstiges Nachspiel, vorausgesetzt, Sie werden nicht rückfällig – obwohl ich natürlich hoffe, Sie werden es doch. Und man dankt Ihnen dafür, daß Sie mit an Bord sind, um es mal so auszudrücken. Was in dieser Branche schon mehr oder weniger einem Heiratsantrag gleichkommt.«
    »Mir liegt nichts daran, freigesprochen zu werden.«
    »Das sollte es aber«, gab er zurück, nun jedoch auf russisch statt auf deutsch, was zu seiner Genugtuung heftige Turbulenzen beidseits des Ganges auslöste. Köpfe ruckten in die Höhe, Köpfe berieten sich hektisch über den Gang hinweg: kann hier irgendwer Russisch? Nach den ratlosen Mienen zu urteilen, nein.
    * * *
    »Nun, da wir ein paar kurze Minuten für uns haben – zumindest hoffe ich das«, fuhr Brue in dem klassischen Russisch seiner Pariser Zeit fort, »gibt es ein paar sehr persönliche, hochgeheime Themen, die ich gern mit Ihnen erörtern würde. Darf ich?«
    Entzückt registrierte er das Aufleuchten in ihren Zügen.
    »Gern, Mr. Brue.«
    »Was Sie über meine Bank gesagt haben. Meine Scheißbank. Ohne die er nicht hier wäre. Nun, er ist jetzt hier. Und wir gehen davon aus, daß er bleiben kann. Wünschten Sie immer noch, er wäre nicht hergekommen?«
    »Nein.«
    »Da bin ich erleichtert. Sie sollen außerdem wissen, daß ich eine Tochter namens Georgina habe, die ich sehr liebe. Ich nenne sie kurz Georgie. Sie ist meine Tochter aus erster Ehe, als ich noch nicht begriffen hatte, was Ehe bedeutet. Oder was Liebe bedeutet, offen gestanden. Es war eine Zeit in meinem Leben, als ich weder zum Ehemann getaugt habe noch zum Vater. Das ist jetzt anders. Georgie erwartet ein Kind, und ich werde lernen, ein Großvater zu sein.«
    »Ach, das freut mich aber.«
    »Danke. Ich will es schon seit einer Weile gern jemandem erzählen, da macht mich das jetzt richtig froh. Georgie ist depressiv. Ich mißtraue diesem Jargon für gewöhnlich, aber in ihrem Fall bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß die Diagnose zutrifft. Sie muß ›eingestellt‹ werden, wie man das in der Fachsprache ja wohl nennt. Sie lebt in Kalifornien. Mit einem Schriftsteller. Früher war sie noch dazu magersüchtig. Sie sah aus wie ein verhungertes Vögelchen. Niemand kam an sie heran. Es war eine schlimme Geschichte. Die Scheidung hat es nicht besser gemacht. Klugerweise hat sie sich nach Amerika abgesetzt. Nach Kalifornien. Wo sie bis heute lebt.«
    »Das hatten Sie gesagt, ja.«
    »Entschuldigung. Worauf ich hinauswill, bei ihr läuft es jetzt wieder rund. Ich habe sie vor ein paar Tagen gesprochen. Manchmal denke ich, je größer die Distanz am Telefon ist, desto eher

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