Marionetten
wie verwandelt. Statt des frommen muslimischen Flüchtlings stand der Sohn eines schwerreichen Obersts der Roten Armee vor ihnen. Schon im Foyer hatte er merklich die Nase gerümpft, so als entspräche das vornehme Ambiente der Bank nicht ganz seinem gewohnten Standard. Jetzt setzte er sich unaufgefordert auf den Thron, den Brue für Annabel bereitgestellt hatte, verschränkte die Arme, schlug die Beine über Kreuz und wartete darauf, daß man das Wort an ihn richtete; für Annabel blieben damit nur die hinteren Ränge.
»Frau Richter, möchten Sie nicht etwas näher kommen?« fragte Brue in dem Russisch, das sie alle sprachen.
»Danke, Mr. Brue, ich sitze sehr bequem«, erwiderte sie mit ihrem wiedergefundenen Lächeln.
»Dann beginne ich jetzt«, kündigte Brue an und schluckte seine Enttäuschung hinunter.
Und er begann, wobei er gegen das seltsame Gefühl anreden mußte, vor einem vollen Saal zu sprechen, nicht vor zwei Menschen, die nur ein paar Meter von ihm entfernt saßen. Im Namen von Brue Frères hieß er Issa in aller Form als den Sohn eines langjährigen Kunden willkommen, vermied es jedoch taktvoll, ihm sein Beileid zu dessen Hinscheiden auszudrücken.
Issa runzelte die Stirn, nickte aber gnädig. Brue räusperte sich. Unter den gegebenen Umständen schlage er vor, die Formalitäten auf ein Minimum zu beschränken. Wie Issas Anwältin – eine leichte Verbeugung in Annabels Richtung – ihm mitgeteilt habe, wolle Issa sein Erbe nur unter der Bedingung antreten, daß es unverzüglich nach Erbantritt ausgewählten muslimischen Wohltätigkeitsorganisationen zufloß.
»Ich bin außerdem davon unterrichtet, daß Sie sich dabei von dem renommierten Islamgelehrten Dr. Abdullah leiten lassen wollen, dem ich Ihre Anweisungen übermittelt habe. Dr. Abdullah wird in Kürze zu uns stoßen.«
»Ich lasse mich von Allah leiten«, verbesserte Issa ihn mißlaunig, aber statt Brue sah er dabei das goldene Korankettchen an, das er fest umfaßt hielt. »Es wird Gottes Wille sein.«
Unter weniger ungewöhnlichen Umständen – fuhr Brue unverdrossen fort – würde er den Anspruchsberechtigten zu diesem Zweck bitten, sich auszuweisen. Dank der Überredungskünste von Frau Richter, sagte er mit Betonung, sehe er sich jedoch imstande, auf eine solche Formalie zu verzichten und umgehend zur Tat zu schreiten, vorausgesetzt (auch dies wieder an Annabels Adresse), ihr Mandant wünsche seinen Anspruch nach wie vor zu stellen.
»Und ob ich ihn stelle!« rief Issa, ehe sie antworten konnte. »Ich stelle ihn für alle Muslime! Ich stelle ihn für Tschetschenien!«
»Nun, wenn das so ist, darf ich Sie bitten, mir zu folgen«, sagte Brue, worauf er seiner Ablage einen kleinen, raffiniert gearbeiteten Schlüssel entnahm.
* * *
Die Tür zum Karzer öffnete sich mit einem Ächzen. Nach dem Abzug der Techniker hatte er nur eins der Alarmsysteme wieder aktiviert. Die Schließfächer zogen sich eine ganze Wand entlang, dunkelgrün, ein jedes mit zwei Schlüssellöchern versehen. Edward Amadeus, stets ein großer Freund humoriger Namen, hatte sie seinen Taubenschlag genannt. Einige der Fächer, das wußte Brue, waren seit fünfzig Jahren nicht geöffnet worden. Jetzt würden sie es vielleicht nie mehr. Er drehte sich zu Annabel um und sah ihre Züge von einem zaghaften Eifer erleuchtet. Den Blick fest auf ihn gerichtet, streckte sie ihm Anatolij s Brief mit der dick aufgemalten Kennummer hin. Er kannte die Nummer auswendig. Auch das dazugehörige Fach kannte er, zumindest von außen. Es sah ramponierter aus als die Nachbarfächer; wie eine russische Munitionskiste, dachte er. Das Etikett – ein vergilbtes, fleckiges Kärtchen, an allen vier Ecken von einer winzigen Eisenkralle gehalten – war in der pedantischen Handschrift von Edward Amadeus höchstselbst beschrieben: LIP, ein Schrägstrich, die Nummer und dann der Vermerk Zu öffnen nur nach Rücksprache mit EAB.
»Ihren Schlüssel, wenn ich bitten darf?« wandte er sich an Issa.
Der streifte das Goldkettchen wieder übers Handgelenk, knöpfte seinen langen Mantel auf und fischte den Lederbeutel aus dem Hemdausschnitt. Er lockerte den Riemen, zog den Schlüssel heraus und streckte ihn Brue hin.
»Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht abnehmen, Issa«, sagte Brue mit väterlichem Lächeln. »Ich habe meinen eigenen, schauen Sie, da.« Und er hielt den Schlüssel der Bank hoch, so daß Issa ihn sehen konnte.
»Kommt Issa als erster dran?« fragte Annabel, begierig wie
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