Marionetten
ihn stehen und marschierte, den Rucksack über der Schulter, zur Drehtür. Auf deren anderer Seite wartete schon der rotlivrierte Portier mit ihrem Fahrrad. Es goß immer noch in Strömen. Sie zog einen Helm aus dem Holzkasten, der an ihren Lenker geschnallt war, setzte ihn auf, klickte den Kinnriemen zu und zog sich eine Regenhose über die Jeans. Und ohne einen Blick oder ein Winken fuhr sie davon.
* * *
Der Tresorraum von Brue Frères lag in einer Art Tiefparterre auf der Rückseite des Gebäudes. Drei mal vier Meter waren die Maße, und seinerzeit hatten sie mit dem Architekten darüber gewitzelt, wie viele säumige Schuldner wohl hineinpassen würden, deshalb hieß er im Haus nur der »Karzer«. Bei anderen Privatbanken mochten Archive und selbst Tresorräume der modernen Technologie zum Opfer gefallen sein: die Gebrüder Brue schleppten ihre Geschichte auf dem Buckel mit sich, und hier lagen die Überreste – per Geldtransporter aus Wien überführt und zur Ruhe gebettet in diesem weißgetünchten Backsteinmausoleum voll seufzender Luftentfeuchter, vor dem ein Zerberus aus blinkenden Lämpchen und Tasten dem Eintretenden einen Code, einen Daumenabdruck und ein paar beschwichtigende Worte abverlangte. Die Versicherung hatte zusätzlich auf Iriserkennung gedrungen, doch dazu hatte sich Brue partout nicht durchringen können.
Im Innern angelangt, schob er sich durch die Gasse angestaubter Schließfächer bis zu dem Stahlschrank an der Rückwand. Er tippte den Code ein und arbeitete sich dann, den Zettel aus Annabel Richters Notizblock in der Hand, durch die Hängeordner, bis er den richtigen gefunden hatte. Er war von verschossenem Orange und wurde durch gefederte Metallklammern zusammengehalten. Die Leiste an seinem Rücken zeigte das Aktenzeichen an, aber keinen Namen. Im bläßlichen Schein der Deckenlampe blätterte Brue in gleichmäßigem Tempo die Seiten durch, mehr ein Überfliegen als ein Lesen. Eine erneute Suche in den Tiefen des Schranks förderte einen Schuhkarton mit eselsohrigen Karteikarten zutage. Er sah sie durch und zog die Karte heraus, die dieselbe Kennziffer wie die Akte trug.
KARPOW, las er. Grigorij Borisowitsch, Oberst der Roten Armee. 1982. Gründungsmitglied.
Dein goldener Jahrgang, dachte er. Mein Schierlingsbecher. Nicht, daß ich je von einem Karpow gehört hätte, aber warum sollte ich auch? Die Lipizzaner standen schließlich in deinem Privatstall.
»Sämtliche Kontobewegungen und Kundenanweisungen dieses Konto betreffend sind vor Einleitung weiterer Schritte umgehend an EAB persönlich zu melden, gezeichnet Edward Amadeus Brue«, las er.
An dich persönlich. Russische Gauner sind Chefsache. Unbedeutendere Gauner – Fondsmanager, Versicherungsmakler, Bankierskollegen – dürfen eine halbe Stunde im Wartezimmer sitzen und sich am Ende mit dem Hauptkassierer begnügen, Gauner aus Rußland dagegen werden auf deine persönliche Anordnung hin sofort zu EAB komplimentiert.
Nicht maschinengetippt. Nicht abgestempelt von Frau Elli, deiner damals noch blutjungen, ergebenen und in höchstem Maße privaten Privatsekretärin, nein, handbeschriftet mit den feinen blauen Schwüngen deines allzeit einsatzbereiten Füllfederhalters und unterschrieben mit deinem Namen in voller Länge, falls ein unkundiger Leser – als hätte es je einen gegeben! – in dem Kürzel nicht sofort Edward Amadeus Brue erkannte, den Bankier, der sich ein Leben lang strikt an die Vorschriften gehalten hatte, nur um zuletzt ge- * gen sie alle zu verstoßen.
Brue verschloß sorgsam den Schrank, dann den Tresorraum und stieg, die Akte unterm Arm, durch das vornehme Treppenhaus wieder hinauf in sein Büro, wo sein Wochenendfrieden zwei Stunden zuvor so brutal gestört worden war. Die über den Schreibtisch verstreuten Akten von Mad Marianne schienen ihm einem anderen Leben zugehörig, die Bedenken der Hamburger Börse unerheblich.
Und immer wieder die Frage: Warum?
Du hattest das Geld nicht nötig, geliebter Vater, keiner von uns hatte das. Du hättest einfach bleiben können, was du warst: der reiche, geachtete Doyen der Wiener Finanzwelt, Inbegriff der Seriosität.
Und an dem Abend, als ich in dein Büro gestürmt kam und Frau Ellenberger bat, uns allein zu lassen (Fräulein Ellenberger damals noch, und welch ein bildhübsches Fräulein!], und mit Nachdruck die Tür hinter ihr schloß und uns beiden einen dreifachen Scotch einschenkte und dir sagte, daß ich es leid sei, allenthalben von den Mafia-Frères
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