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Marionetten

Marionetten

Titel: Marionetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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die Augen, die jedoch nur kurz. Sie schien nichts zu entdecken, was sie überraschte. Brue für seinen Teil musterte sie nicht minder forschend, aber verhohlener: die kultivierte Art, wie sie an ihrem Wasser nippte, Ellbogen eng am Körper, Unterarm vor der Brust; ihr Selbstvertrauen in dieser feudalen Umgebung, die zu mißbilligen sie sichtlich entschlossen war; die verkappte Stilsicherheit; die verleugnete Kinderstube, die sich nicht ganz verleugnen ließ.
    Sie hatte das Tuch vom Kopf gewickelt. Darunter kam eine wollene Baskenmütze zum Vorschein. Eine ungebärdige Strähne goldbraunen Haars hing ihr in die Stirn. Sie verbannte sie wieder in ihren Arrest, bevor sie einen Schluck Wasser trank und zu ihrer Musterung zurückkehrte. Ihre Augen, von den Brillengläsern vergrößert, waren graugrün und furchtlos. Honiggesprenkelt, ging es ihm durch den Kopf: wo hatte er das gelesen? In einem der Dutzende von Romanen, die sich auf Mitzis Nachttisch stapelten. Ein kleiner, hochangesetzter Busen, betont unbetont.
    Brue zog eine Visitenkarte aus einer Innentasche seines blauseiden gefütterten Randall’s-Jacketts und reichte sie ihr mit einem höflichen Lächeln über den Tisch.
    »Wieso Frères ?« wollte sie wissen. Keine Ringe, die Fingernägel kurz wie bei einem Kind.
    »Das müssen Sie meinen Urgroßvater fragen.«
    »War er Franzose?«
    »Ich fürchte nein. Er wäre es bloß gern gewesen« – Brue nahm zu seiner Standarderklärung Zuflucht. »Er war Schotte. Viele Schotten fühlen sich Frankreich näher als England.«
    »Hatte er Brüder?«
    »Nein. Und ich gestehe es lieber gleich: ich auch nicht.«
    Sie bückte sich zu ihrem Rucksack, zog einen der Reißverschlüsse auf, dann einen anderen. An ihrem Arm vorbei bemerkte Brue in schneller Folge: Tempotaschentücher, ein Fläschchen Kontaktlinsenflüssigkeit, ein Mobiltelefon, Schlüsselbund, einen Schreibblock, Kreditkarten und einen braunen Ordner, mit Zetteln und Zahlen gespickt wie das Dossier eines Prozeßanwalts. Kassettenrecorder oder Mikrophon konnte er nicht ausmachen, aber bei der heutigen Technologie mußte das nichts heißen. Abgesehen davon, daß sie unter dieser Montur spielend einen fünfundzwanzigpfündigen Sprengstoffgürtel umgeschnallt haben konnte.
    Sie streckte ihm eine Karte hin.
    FLUCHTHAFEN HAMBURG, las Brue. Christliche Stiftung zum Schutz von Staatenlosen und Flüchtlingen im Raum Norddeutschland. Büro im Osten der Stadt. Telefon- und Faxnummern, E-Mail-Adresse. Konto bei der Commerzbank. Vielleicht konnte er ja am Montag ein Wörtchen mit der Geschäftsleitung reden, wenn nötig. Ihre Kreditwürdigkeit überprüfen. Annabel Richter, Rechtsberatung. Die Worte seines Vaters klangen ihm wieder im Ohr: Trau nie einer schönen Frau, Tommy. Sie sind eine Verbrecherklasse für sich, die beste, die’s gibt.
    »Wenn Sie sich den auch anschauen möchten«, sagte sie, wobei sie ihm einen Personalausweis hinschob.
    »Ich bitte Sie, warum sollte ich?« protestierte er, obwohl ihm der Gedanke ebenfalls gekommen war.
    »Vielleicht bin ich ja nicht die, die ich zu sein behaupte.«
    »Ach? Wer sollten Sie denn sonst sein?«
    »Einige meiner Klienten werden von Leuten angesprochen, die sich als Anwälte ausgeben, aber keine sind.«
    »Wie schockierend. Großer Gott. Was für eine schreckliche Idee, daß mir das einmal passieren könnte. Gut, aber vielleicht ist es mir ja schon passiert, stimmt’s? Und ich weiß es nur nicht. Ein Albtraum«, erklärte er in gespielter Unbeschwertheit, aber wenn er gehofft hatte, daß sie auf seinen Ton eingehen würde, wurde er enttäuscht.
    Ihr Paßphoto zeigte sie mit offenem Haar, einem älteren Brillenmodell und demselben Gesicht wie jetzt, nur ohne den drohenden Blick. Annabel Richter, geboren in Freiburg im Breisgau, Jahrgang 1977, womit sie so jung war, wie man als deutsche Anwältin nur sein konnte – wenn sie denn Anwältin war. Sie hatte sich in ihrem Stuhl nach hinten sacken lassen wie ein Boxer, der sich zwischen den Runden erholt, und beobachtete ihn über die Länge ihres aufgepolsterten, zugeknöpften, unnahbaren kleinen Körpers hinweg.
    »Haben Sie schon mal von uns gehört?«
    »Wie bitte?«
    »Fluchthafen Hamburg. Haben Sie von unserer Arbeit gehört? Ist sie Ihnen irgendein Begriff?«
    »Leider nein.«
    Mit einem langsamen Kopfschütteln ließ sie den Blick durch die Hotelhalle wandern. Über die herausgeputzten ältlichen Paare. Über die lärmenden jungen Reichen an der Bar. Den Hauspianisten, der

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