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Marionetten

Marionetten

Titel: Marionetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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aufgegeben.«
    Selbst nach den Regeln des Spiels, das sie spielten – und doch nicht spielten war die Frage ungewöhnlich direkt, und Brue ließ sich ungewöhnlich lange Zeit damit, sie umzudrehen.
    »Ein Mann, wenn du’s genau wissen willst«, erwiderte er, indem er gedanklich Zuflucht zu Issa nahm; woraufhin Mitzi mit wissendem Lächeln zu ihrem Buch zurückkehrte.

8
    Von einem Fluchthafen hatte das Gebäude wenig, zumindest nach außen hin nicht. Es war ein schuldbehafteter, heruntergekommener Nazibau, an die Ecke einer Kreuzung gequetscht und bedrängt von grellbunten Zigarettenreklamen. Seine nässenden Mauern waren mit Graffiti bedeckt, tropische Sonnenuntergänge und Obszönitäten im Wechsel. Auf seiner einen Seite duckte sich ein Wellblechcafé, das Asyl, auf der anderen ein afrikanisch-asiatischer Secondhandmarkt. Im Innern freilich herrschten Betriebsamkeit, Effizienz und ein betonter Optimismus.
    So auch an diesem sonnigen, frühlingshaften Montagmorgen, an dem Annabel, tapfer um den Anschein der Normalität bemüht, ihr Fahrrad die Stufen zum Vorhof hinaufbugsierte, es dort am selben Fallrohr festschloß wie immer und den Glitzerpfeilen folgte: die geflieste Treppe hoch zum Foyer, wo sie wie üblich klingeln und dann warten mußte, bis Wangaza an der Pforte sie durch die Glastür erspähte und den Summer drückte; vorbei an den unvermeidlichen Reihen von Männern in braunen Anzügen, Frauen im Hijab und schattenäugigen Kindern, die in dem eingeglasten Spielbereich Bauklötze aufeinanderstellten, die Schildkrötenfamilie mit Salatblättern fütterten oder sehnsüchtige Finger durch den Drahtzaun des Kaninchenstalls steckten (und warum waren heute morgen alle so still, oder kam ihr das nur so vor?) – vorbei an ihnen allen in das Großraumbüro, wo Lisa und Maria, die hauseigenen Arabistinnen, schon den ersten Klienten des Tages gegenübersaßen; schnell ein Hallo und ein Lächeln mit beiden gewechselt und weiter in den Korridor der Rechtsabteilung, den die Morgensonne mit ihren Lichtspeeren leuchten ließ wie den Pfad zum Paradies (und warum hatte Ursula so früh am Montag ihre Tür geschlossen und das rote Nicht-stören-Lämpchen darüber eingeschaltet? – Ursula, die sich so viel darauf zugute hielt, daß ihre Tür der ganzen Welt offenstand, und diese Offenheit auch allen anderen predigte?), bis sie endlich ihr Büro erreichte, wo sie den Rucksack abschnallte, ihn zu Boden plumpsen ließ wie die Schuldenlast, zu der er geworden war, sich an ihren Schreibtisch setzte, die Augen schloß und einen Moment lang den Kopf in den Händen vergrub, bevor sie Zuflucht zu ihrem Computer nahm und blicklos auf den Bildschirm starrte.
    * * *
    In der Stille ihres Büros – der vier Wände, wo ihr Ursula Meliks Anruf durchgestellt und sie erstmals von Meliks Freund gehört hatte, der nur Russisch sprach und so dringend ihre Hilfe brauchte – hielt sie Rückschau auf das Wochenende, als umfaßte es ihr ganzes Leben.
    Die Einzelteile trieben immer noch durcheinander. In zwei Tagen und zwei Nächten hatte sie ihn wie oft besucht? – fünfmal? sechsmal? Oder siebenmal, wenn sie seinen Einzug mitrechnete? Danach am Samstagabend wieder. Zweimal am Sonntag. Noch einmal heute morgen bei Sonnenaufgang, als sie ihn beim Beten gestört hatte. Wie oft machte das insgesamt?
    Aber wenn sie sich Rechenschaft über die Stunden ablegen wollte, die sie mit ihm verbracht hatte, wenn sie versuchte, Ordnung in ihre Erinnerungen zu bringen – worüber sie beide gesprochen hatten bei ihren streng getrennten Hochseilakten, wann sie gelacht, wann sie sich in ihre verschiedenen Ecken zurückgezogen hatten –, vermischte sich alles, und die Ereignisse begannen durcheinanderzutrudeln.
    War das Samstag abend gewesen, als sie auf Annabels Campingkocher die Kartoffel-Zwiebel-Suppe gekocht hatten, im Dunkeln wie Kinder am Lagerfeuer?
    »Warum machen wir kein Licht, Annabel? Sind wir in Tschetschenien und erwarten einen Bombenangriff? Ist es heute illegal, Licht zu machen? In dem Fall ist ganz Hamburg illegal.«
    »Ich will nur keine unnötige Aufmerksamkeit erregen.«
    »Manchmal erregt Dunkelheit mehr Aufmerksamkeit als Licht«, urteilte er nach ausgedehntem Nachdenken.
    Nichts, was für ihn keine Bedeutung hatte: eine Bedeutung aus seiner Welt, nicht aus ihrer. Kein Wort aus seinem Mund, das nicht tiefgründig geklungen hätte, durchdrungen von einem Wissen, das der Verzweiflung abgerungen war.
    Und die russischen Zeitungen – hatte sie

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