Marissa Blumenthal 02 - Trauma
Herausforderungen.«
12
9. April 1990
7.11 Uhr morgens
Marissa wachte ziemlich zerschlagen auf. Sie hatte die Nacht schlecht geschlafen. In Charleville war sie in ein sauberes Hotel gezogen. Auch das Bett war bequem. Dennoch war sie höchstens mal eingedöst. Immer wenn sie die Augen schloß, sah sie den großen weißen Hai vor sich. Wenn sie mal kurz einschlief, weckte sie das alptraumhafte Bild Wendys in den Zähnen des Hais. Erst in den frühen Morgenstunden fand sie fast drei Stunden unruhigen Schlaf.
Obgleich sie keinen Hunger hatte, zwang sie sich, etwas zu frühstücken. Dann machte sie sich auf den Weg zu einer Autovermietung.
Als Marissa durch die Straßen in Charleville schritt, hatte sie das Gefühl, die Zeit wäre um fünfzig Jahre zurückgedreht und sie befände sich in einer Stadt des Mittleren Westens der Vereinigten Staaten. Der eigenartige viktorianische Baustil, der sie in Brisbane erwartet hatte, zeigte sich auch hier in Privathäusern und Bürobauten. Die Luft war klar, der Morgen hell, und auf den Straßen sah man nirgends Abfall. Und die frühe Morgensonne war schon so warm, daß sie sich gut vorstellen konnte, wie stark sie erst zu Mittag scheinen würde.
Die Shell-Tankstelle hatte Autos zu vermieten. Marissa nahm einen Ford Falcon. Sie fragte nach einer Karte. Doch der Vermieter hatte keine.
»Wo wollen Sie denn hinfahren?« fragte er in der gedehnten Sprechweise der Queenslander.
»Nach Windorah«, sagte Marissa.
Der Mann sah sie an, als halte er sie für eine Verrückte. »Warum in aller Welt denn dahin?« fragte er. »Wissen Sie überhaupt, wie weit es bis Windorah ist?«
»Nicht genau«, gab Marissa zu.
»Es sind über 320 Kilometer«, sagte der Mann. »320 Kilometer und nichts als Wallabys, Känguruhs und Eidechsen. Dafür brauchen Sie
wahrscheinlich acht bis zehn Stunden. Lassen Sie sich lieber auch den Reservekanister füllen! Und hier ist auch ein Wasserkanister. Machen Sie den vorsichtshalber auch voll!«
»Wie ist die Straße?« erkundigte sich Marissa.
»Straße ist übertrieben«, sagte der Vermieter. »Es gibt eine befestigte Fahrbahn, aber die ist sehr staubig. Es hat für diese Jahreszeit zu wenig geregnet. Am besten, Sie rufen mich morgen an, wenn Sie in Windorah eingetroffen sind. Wenn ich nichts von Ihnen höre, benachrichtige ich die Polizei. Es gibt kaum Verkehr auf dem ganzen Weg.«
»Vielen Dank«, sagte Marissa. »Das werde ich tun.«
Mit gefüllten Reserveund Wasserkanistern fuhr Marissa durch Charleville und auf die Straße nach Windorah. Wie der Autovermieter gesagt hatte, verengte sich die an den Ausläufern der Stadt noch gepflasterte Straße bald zu einer einzigen Fahrbahn.
Zu Anfang genoß Marissa die Fahrt noch. Die Sonne stand in ihrem Rücken und schien ihr nicht in die Augen, was sich allerdings im Laufe des Tages ändern würde. Die einsame Landschaft wirkte wie Balsam auf ihre aufgewühlten Gefühle.
Die Straße hatte eine orangerote Färbung und führte quer durch das sogenannte Kanalland, eine ausgedörrte, wüstenähnliche Gegend mit sonderbaren, schmalrippigen Tälern oder Arroyos, durch die während der Regenzeit dünne Rinnsale flossen. Überall saßen Vögel, die davonstoben, wenn sie auf sie zufuhr. Sie sah auch die Tiere, von denen der Autovermieter gesprochen hatte. Gelegentlich kam sie an Wasserstellen vorbei, die in den Farben des Hibiskus prangten.
So aufregend die Landschaft anfangs erschien, so eintönig wurde sie allmählich. Mit jedem zurückgelegten Kilometer spürte Marissa mehr Erleichterung über die Vereinbarung, die sie mit dem Mann wegen des Anrufs aus Windorah getroffen hatte. Noch nie im Leben war sie durch eine so einsame Landschaft gefahren, und die Vorstellung, sie könnte mit einer Panne liegenbleiben, war wirklich furchterregend.
Das Fahren war im übrigen gar nicht so einfach. Die Straße war so holprig, daß Marissa dauernd mit dem Lenkrad zu kämpfen hatte.
Die Staubwolke, die sie hinter sich aufwirbelte, drang allmählich auch in den Wagen ein und überzog alles mit einer feinen Schicht.
Zur Mittagszeit schätzte sie, daß die Temperatur auf über vierzig Grad angestiegen war. In der Hitze flimmerte die Straße vor ihren Augen, so daß es aussah, als bestände sie aus lauter Wellen. Die Tierwelt sorgte für weitere Abwechslung. Am späten Nachmittag mußte Marissa einmal scharf auf die Bremse treten, als eine Horde Wildschweine die Straße überquerte. Der Wagen kam dabei ins
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