Marissa Blumenthal 02 - Trauma
mir nur, wo sie uns hinbringen wollen.«
Um Marissa von ihrer Platzangst abzulenken, fing Tristan an, über alles mögliche zu plaudern, was ihm gerade in den Sinn kam.
Nach unzähligen Biegungen, Stopps und Wiederanfahren hielt der Wagen endgültig, und der Motor wurde ausgeschaltet. Marissa und Tristan konnten hören, wie Türen auf und zu gingen. Sekunden später wurde der Kofferraum aufgeschlossen und der Deckel hochgeklappt.
Die drei Männer sahen auf sie hinunter.
»Aussteigen, bitte!« sagte der Mann mit dem Schießeisen. Verschmutzt und durchgeschwitzt kletterte Marissa aus dem Kofferraum. Tristan folgte ihr. Sie befanden sich in einer großen Lagerhalle, in der Schiffscontainer aufgestapelt waren.
»Vorwärts!« sagte der Mann mit der Schußwaffe und deutete auf einen Gang zwischen zwei Containern.
Tristan legte den Arm um Marissa. Angstvoll gingen sie in der angegebenen Richtung los. Was mochte ihnen bevorstehen? Als sie die Container hinter sich hatten, kamen sie an eine geschlossene Tür. Sie hielten an und warteten auf weitere Anweisungen. Einer der Entführer machte die Tür auf und bedeutete ihnen durchzugehen.
Drinnen kamen Tristan und Marissa in einen langen Korridor. Unausgesprochenen Befehlen folgend, gingen sie bis ans Ende durch, wo eine Tür ohne Aufschrift sie zum Halten zwang. Einer der Männer klopfte an. Von innen sagte jemand etwas auf chinesisch, und die Tür wurde geöffnet.
Marissa und Tristan wurden hineingestoßen.
Das Zimmer sah mit einem Schreibtisch, Aktenschränken, Büromöbeln, Anschlagbrettern und großen Kalendern mit Fotos von Überseeschiffen nach einem echten Büro aus. Am Schreibtisch saß ein Chinese, der etwas älter war als die drei Entführer. Er war tadellos angezogen und trug einen weißen Seidenanzug mit goldenen Manschettenknöpfen und goldener Krawattennadel. Die kohlschwarzen Haare waren aus der Stirn zurückgekämmt und mit lackartigem Haarspray befestigt. Neben ihm stand ein zweiter Chinese in grauem Geschäftsanzug.
Man stieß Marissa und Tristan vor den Schreibtisch. Der Mann im weißen Anzug lehnte sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und musterte die beiden vom Kopf bis zu den Zehen. Dann schwang er den Oberkörper vor und stützte die Ellbogen auf zwei große Hauptbücher, die aufgeschlagen auf dem Schreibtisch lagen.
Der Mann sagte etwas in rasend schnellem Chinesisch. Sofort traten die drei Männer in den blauen Anzügen vor, um Marissa und Tristan zu durchsuchen. Sie nahmen ihnen Brieftaschen und Armbanduhren ab und legten sie auf den Schreibtisch. Dann traten sie wieder zurück.
Der Mann im weißen Anzug tat, als hätte er alle Zeit der Welt. Genüßlich zündete er sich eine Zigarette an, die er wie eine Zigarre zwischen die Zähne klemmte. Um keinen Qualm in die Augen zu be-
kommen, legte er den Kopf zur Seite, nahm die Brieftaschen hoch, durchstöberte den Inhalt und sah sich die Fotos und die Kreditkarten an. Was an Geld vorhanden war, nahm er heraus und legte es auf den Schreibtisch.
»Wir sind neugierig, warum Sie sich nach den Wing Sin erkundigt haben«, sagte er in perfektem Englisch mit dem Akzent einer englischen Privatschule. »Die Triaden verstoßen in Hongkong gegen das Gesetz. Es ist gefährlich, über sie zu reden.«
Bevor Tristan antworten konnte, sagte Marissa: »Wir sind Ärzte und nur an gewissen Auskünften interessiert. Wir erforschen eine bestimmte Krankheit.«
»Eine Krankheit?« fragte der Mann ungläubig.
»Tuberkulose«, sagte Marissa. »Wir versuchen, die Spuren einer bestimmten Tuberkuloseinfektion, die in den Vereinigten Staaten, Europa und Australien aufgetaucht ist, an ihren Ursprung zurückzuverfolgen.«
Der Mann im weißen Anzug lachte. »Was soll denn das?« fragte er.
»Jetzt sucht man bei den Triaden schon medizinische Kenntnisse! Eine Ironie des Schicksals, wenn man bedenkt, daß gewisse Politiker die Triaden seit Jahrhunderten als eine Krankheit bezeichnen!«
»Wir suchen bei den Wing Sin nicht nach medizinischen Kenntnissen«, sagte Tristan. »Vielmehr wünschen wir Auskunft über illegale Flüchtlinge, die die Wing Sin aus der Volksrepublik China herausgeschmuggelt haben, und zwar im Dienst einer australischen Gesellschaft, die Female Care Australia oder Fertility Limited heißt.«
Der Mann im weißen Anzug musterte prüfend die beiden Ausländer. »Das Erstaunliche an diesem Gespräch ist, daß ich Ihnen glaube«, sagte er und lachte wieder, aber diesmal weniger fröhlich.
Weitere Kostenlose Bücher