Marissa Blumenthal 02 - Trauma
»Was Sie da eben sagten, ist so absurd, daß kein Mensch es erfinden könnte. Aber ob wahr oder nicht, das befreit Sie natürlich nicht von den Gefahren, die damit verbunden sind, wenn man in der Öffentlichkeit von den Wing Sin spricht.«
»Wir sind bereit, für die Auskünfte zu zahlen«, sagte Tristan.
»Oh!« sagte der Mann im weißen Anzug und lächelte ebenso wie seine Schergen. »Ihr Australier habt eine nachahmenswerte Art, gleich auf den Kern der Sache zu kommen. Nun, da sich in Hongkong alles verkaufen läßt, könnten wir vielleicht auch ins Geschäft kommen. Wenn Sie uns also einen kleinen Betrag von, sagen wir,
10.000 Hongkong-Dollar anbieten würden, wäre ich bereit, einige Nachfragen zu übernehmen. Mal sehen, was ich dabei für Sie herausfinden kann. Selbstverständlich kann ich für den Erfolg nicht garantieren.«
»Sagen wir 5000«, sagte Tristan.
Der Mann im weißen Anzug lachte wieder. »Ich bewundere Ihren Mut«, sagte er. »Aber Sie sind nicht in der Lage, mit uns handeln zu können. 10.000!«
»In Ordnung«, sagte Tristan. »Wann kriegen wir die Auskünfte?«
»Sie treffen mich morgen vormittag um zehn Uhr oben auf dem Victoria Peak«, sagte der Mann im weißen Anzug. »Sie müssen mit der Straßenbahn kommen.«
»Gut«, sagte Tristan, trat einen Schritt vor und griff nach ihren Brieftaschen und Armbanduhren.
Der Mann hinter dem Schreibtisch stieß Tristans Hand weg. Dann nahm er die Brieftaschen und gab sie ihm zurück. »Das Geld und die Armbanduhren müssen wir leider einbehalten«, sagte er. »Tut mir leid, aber es ist eine kleine Belohnung für die Männer, die Sie hergebracht haben. Das Geld können wir als Anzahlung auf die 10.000
Dollar ansehen.« Er blätterte in den Geldscheinen, zog eine einzelne
10-Dollar-Note heraus und gab sie Tristan. »Für Fahrtspesen von dem Punkt aus, wo Sie abgesetzt werden.«
Tristan nahm den Schein entgegen. »Danke, Kumpel, nett von Ihnen. Aber sagen Sie mir eins: Sind Sie Mitglied der Wing Sin?«
»Da ich weiß, daß Sie aus Australien kommen und daher von jeder Zivilisation unbeleckt sind, will ich Ihnen die Frage noch einmal verzeihen. Außerdem möchte ich Sie davor warnen, sich vor unserem Treffen an die Polizei zu wenden. Wir werden Sie ständig beobachten. Morgen treffe ich Sie dann mit dem Geld.«
Er winkte mit der Hand, und sofort kamen die drei Männer in den dunkelblauen Anzügen und geleiteten Marissa und Tristan aus dem
Zimmer. Danach wandte sich der Mann im weißen Anzug wieder seinem Hauptbuch zu.
»Ein freundlicher Mensch«, bemerkte Tristan ironisch, während sie durch den langen Korridor ins Lagerhaus gingen. Am Wagen blieben sie stehen.
Einer der Männer hob den Kofferraumdeckel hoch. »Doch nicht schon wieder da rein, Kumpel!« sagte Tristan.
In der gleichen Stellung, wie sie hergekommen waren, doch mit erheblich weniger Angstgefühlen, wurden Marissa und Tristan aus der Lagerhalle kutschiert. Tristan kuschelte sich näher an Marissa und sagte: »Ich könnte an dieser Transportmethode Gefallen finden.«
»Tris«, sagte Marissa, »lassen Sie den Quatsch! Sprechen Sie mit mir wie auf der Herfahrt! Da haben Sie mich von dem Gedanken, eingesperrt zu sein, abgelenkt.«
»Jedenfalls ist jetzt klar, warum sie uns wieder hier hinten einsteigen ließen«, sagte Tristan. »Wir sollen nicht wissen, wo die Lagerhalle steht.«
»Erzählen Sie mir etwas aus Ihrer Kindheit!« sagte Marissa. Tristan räusperte sich und tat ihr den Gefallen.
Die zweite Fahrt war viel kürzer als die erste. Als der Kofferraumdeckel wieder aufgemacht wurde, waren sie ganz erstaunt, nicht nur wegen der kurzen Fahrzeit, sondern auch darüber, daß man den Motor noch laufen ließ.
Marissa und Tristan blinzelten in der grellen Sonne und versuchten sich zurechtzufinden. Sie befanden sich in einer Straße der Innenstadt, und zwar gegenüber dem Eingang zum Bahnhof Mong Kok der Hongkonger U-Bahn. Einige Passanten blieben kurz stehen und schauten sie offenen Mundes an, gingen aber gleich wieder weiter. Marissa fragte sich, ob es in Hongkong so üblich war, daß man mitten in der Stadt Leute aus dem Kofferraum eines Autos krabbeln zu sehen pflegt.
Die Männer in den blauen Anzügen sprachen kein Wort. Ruhig stiegen sie wieder ein und fuhren ab.
»Damit wäre ein höchst interessanter Vormittag beendet«, sagte Tristan. »Wollen wir ins Hotel zurück?«
»Bitte«, sagte Marissa. »Ich bin nur noch ein Nervenbündel. Ich verstehe nicht, woher Sie
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