Marissa Blumenthal 02 - Trauma
Abstrich von den offenen Wunden gemacht werden. Ich bin gleich wieder da.«
Sie verließ das Untersuchungszimmer und begab sich in den Lagerraum, in dem niemand war. Dort schlug sie die Hände vors Gesicht und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Sie fand es selber scheußlich, daß sie so wenig Selbstbeherrschung hatte. Es war erschreckend, wie dicht sie schon vor dem Abgrund stand. Sie hätte die Mutter schlagen können. Nach diesem Erlebnis erschien ihr die Diskussion mit Linda Moore bedeutend wirklichkeitsnäher, als es ihr zunächst vorgekommen war.
Zum erstenmal fragte sie sich, ob es überhaupt ratsam war, in ihrem reichlich labilen Gemütszustand weiterhin Patienten zu empfangen.
Robert kam wie üblich spät aus dem Büro nach Haus. »Wir könnten doch essen gehen«, schlug er vor. »Komm, wir gehen ins chinesische Restaurant! Wir sind schon ein Vierteljahr lang nicht dort gewesen.«
Marissa fand das eine gute Idee. So kam sie endlich mal aus dem Haus. Sie hatte Robert zur Rede stellen wollen, vor allem deswegen, weil er gestern im Gästezimmer geschlafen hatte. Es war zum erstenmal geschehen und beunruhigte sie. Außerdem war sie ausgehungert, und der Gedanke an chinesisches Essen reizte ihren Appetit.
Nachdem er rasch geduscht hatte, stiegen sie in seinen Wagen und fuhren in die Stadt. Robert schien guter Laune zu sein, was Marissa als gutes Zeichen ansah. Er hatte an diesem Tag ein lohnendes Geschäft mit Investoren aus Europa abgeschlossen. Es ging um den Bau und die Geschäftsführung von Heimen für Krankenschwestern im Ruhestand in Florida. Marissa hörte allerdings nur mit halbem Ohr hin.
Als er mit seiner Geschichte zu Ende war, sagte sie: »Ich habe heute die Beraterin in der Frauenklinik aufgesucht. Sie war noch hilfsbereiter, als ich mir vorgestellt hatte.«
Robert reagierte nicht. Er sah sie nicht einmal an. Marissa spürte seinen inneren Widerstand. Er mochte es nicht, daß sie das Gespräch auf ihre eigenen Probleme gelenkt hatte.
Doch sie ließ sich nicht beirren und fuhr fort: »Sie heißt Linda Moore, und sie ist sehr gut in ihrem Fach. Sie hat die Hoffnung ausgesprochen, daß du auch mindestens einmal in ihre Sprechstunde kommst.«
Robert warf Marissa einen Blick zu. Dann schaute er wieder auf die Straße. »Ich habe dir doch gestern gesagt, daß ich kein Interesse daran habe«, sagte er.
»Es könnte aber uns beiden nützen«, sagte Marissa. »Unter anderem hat sie mir geraten, ein Limit für die Zahl der Zyklen zu setzen, die wir noch versuchen wollen, bevor wir endgültig aufgeben. Sie sagt, der Streß werde abgebaut, wenn man von vornherein weiß, daß die Sache nicht endlos weitergeht.«
»Wie viele hat sie vorgeschlagen?« fragte Robert.
»Acht«, antwortete Marissa. »Statistisch gesehen, dürften vier nicht ausreichen.«
»Das sind 80.000 Dollar«, sagte Robert.
Darauf wußte Marissa nichts mehr zu sagen. Dachte er denn nur noch an Geld? Wie konnte er ein Kind einfach nach dem Dollarwert berechnen?
Eine Zeitlang fuhren sie schweigend weiter. Marissa war die Lust vergangen, sich mit ihm zu unterhalten. Dennoch wollte sie irgendwann die Frage aufs Tapet bringen, warum er letzte Nacht im Gästezimmer geschlafen hatte. Dazu hatte sie einiges zu sagen.
Ohne Schwierigkeiten fand Robert in der Nähe des Restaurants einen Parkplatz. Erst als Marissa die Tür zum Aussteigen öffnete, fand sie den Mut, ihn danach zu fragen.
Doch es stellte sich heraus, daß er nicht in der Stimmung war, ihr eine Antwort zu geben.
Ärgerlich sagte er: »Ich muß mich mal von allem freimachen. Ich habe dir doch gesagt, daß mich diese In-Vitro-Sache noch zum Wahnsinn treibt. Mal kommt dies, dann wieder etwas anderes. Jetzt ist es also dieser Unsinn mit der Beratung!«
»Das ist kein Unsinn!« gab Marissa scharf zurück.
»Da haben wir es ja wieder«, sagte Robert. »Neuerdings kann ich überhaupt nichts mehr zu dir sagen, ohne daß du gleich aus der Haut fährst.«
Sie blickten sich über den Wagen hinweg ins Auge. Nach einem kurzen Stillschweigen wechselte Robert wieder das Thema, indem er sie aufforderte: »Gehen wir essen!«
Mißmutig folgte Marissa ihm in das Restaurant.
China Pearl war ein Familienunternehmen, das kürzlich aus Chinatown in diesen Vorort von Boston umgezogen war. Die Einrichtung war die übliche: einfache Tische mit Kunststoffbelag und zwei rote Drachen aus Keramik. Zu dieser späten Stunde waren nur noch vier oder fünf der etwa 20 Tische
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