Marissa Blumenthal 02 - Trauma
Nasenrücken. Offenbar führte sie ein Gespräch mit einer Patientin, was Marissa peinlich war. Sie versuchte nicht hinzuhören. Aber das Gespräch endete bald, und Linda widmete sich nun ausschließlich ihr.
»Ich habe mich über Ihren Anruf gefreut«, sagte sie lächelnd.
Fast sofort begann sich auch Marissa darüber zu freuen. Linda machte auf sie einen tüchtigen, aber auch herzlichen Eindruck. Von ihr ermuntert, wurde Marissa rasch aufgeschlossener. Sie erfuhr, daß Lindas Patientinnen mit einer Vielzahl von Problemen zu ihr in die Frauenklinik kamen, von denen sich jedoch ein großer Teil auf die künstliche Befruchtung bezog. Sie schien gut zu verstehen, was Marissa durchgemacht hatte. Vielleicht besser als Marissa selber.
»Im Grunde ist es ein Problem wie bei Sophies Entscheidung«, sagte Linda nach etwa einer halben Stunde. »Sie haben zwei gleichermaßen unbefriedigende Möglichkeiten: Sie können die Behandlung abbrechen und sich mit ihrer Unfruchtbarkeit abfinden, wie Ihr Mann vorschlägt, und fortan ein Leben führen, das nicht Ihren Erwartungen entspricht. Oder Sie können die Behandlung fortsetzen, was zu fortdauerndem Streß für Sie und Ihre Beziehungen führen wird, zu weiteren Kosten, auf die Ihr Mann hingewiesen hat, sowie zu weiterem Streß für Sie beide, und das alles ohne Garantie auf Erfolg.«
»In so kurzer, bündiger Form habe ich das noch nie gehört«, sagte Marissa.
»Ich halte es für wichtig, mich klar auszudrücken«, sagte Linda.
»Und ehrlich zu sein. Zunächst muß man ehrlich gegenüber sich selbst sein. Um vernünftige Entscheidungen zu treffen, muß man sich darüber klar sein, welche Möglichkeiten einem zur Wahl stehen.«
Allmählich fiel es Marissa leichter, ihre Gefühle zu offenbaren. Das Überraschende war, daß sie dadurch auch zu Selbsteinsichten kam.
»Eins der schlimmsten Probleme für mich ist, daß ich die Sache nicht selber in die Hand nehmen kann.«
»Das ist wahr«, sagte Linda. »Bei Unfruchtbarkeit kann man sich noch so sehr bemühen, es macht doch keinen Unterschied.«
»Robert hat gesagt, ich sei ›besessen‹ «, berichtete Marissa.
»Wahrscheinlich hat er recht«, sagte Linda. »Und das ewige Auf und Ab bei dem IVF-Programm macht es nur noch schlimmer: dieses ständige Hin und Her von Hoffnung zu Verzweiflung, von Kummer zu Wut und von Neid zu Selbstvorwürfen.«
»Neid?« wiederholte Marissa. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Der Neid, den Sie gegenüber Frauen empfinden, die Kinder haben«, sagte Linda. »Der Schmerz, der Sie vielleicht überkommt, wenn Sie Müttern mit Kindern im Lebensmittelladen begegnen. So etwas meine ich.«
»Ja, oder wie ich Ärger auf die Mütter spüre, die in meine Praxis kommen«, sagte Marissa zustimmend. »Besonders auf solche, die ihre Kinder in irgendeiner Weise vernachlässigen.«
»Genau«, sagte Linda. »Ich kann mir für eine unfruchtbare Frau eigentlich nichts Schlimmeres denken als die Praxis einer Kinderärztin. Warum sind Sie nicht Fachärztin auf einem anderen Gebiet geworden?« Linda lachte, und Marissa lachte mit. Kindermedizin war wirklich für jemand in ihrer Lage ein besonders grausames Feld. Wahrscheinlich war das auch mit ein Grund, warum sie sich so oft wie möglich davor drückte, zur Arbeit zu gehen.
»Ärger und Neid das ist okay«, sagte Linda. »Leben Sie diese Gefühle nur richtig aus! Versuchen Sie ja nicht, sie zu unterdrücken, nur weil Sie meinen, sie wären unpassend!« Leichter gesagt als getan, dachte Marissa.
»Bevor wir uns trennen«, fuhr Linda fort, »möchte ich Sie noch auf zwei wichtige Gesichtspunkte aufmerksam machen. Wir werden bei späteren Konsultationen noch im einzelnen darüber sprechen, und hoffentlich können wir Robert auch ein-, zweimal dabeihaben. Aber ich möchte Sie davor warnen, ihre ganzen Hoffnungen allein auf dieses langersehnte Kind zu setzen. Reden Sie sich nur nicht ein, daß alles anders werden wird, sobald Sie ein Baby haben! So ist das nämlich keineswegs. Statt dessen möchte ich Ihnen folgendes vorschlagen: Setzen Sie sich einen realistischen Zeitrahmen für die künstlichen Befruchtungsversuche. Soviel ich weiß, sind Sie im vierten Zyklus. Stimmt das?«
»Ja«, sagte Marissa. »Morgen wird mir das Embryo eingesetzt.«
»Nach der Statistik werden vier Zyklen wahrscheinlich nicht ausreichen«, sagte Linda. »Sie sollten sich vielleicht acht Versuche als Limit setzen. So in der Gegend des achten Versuchs haben wir hier in der Frauenklinik
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