Marissa Blumenthal 02 - Trauma
Hauser war ein Arzt alter Schule. Ein großer stattlicher Mann, der völlig kahl war, bis auf einen Silberkranz von Haaren am Hinterkopf. Er hatte eine Drahtgestellbrille auf und trug stets seine unvermeidliche Fliege. Sein warmherziges, großzügiges Wesen machte, daß sich jeder in seiner Gegenwart wohl fühlte, ob Patient oder Kollege.
»Wenn der Erfolg aber ausbleibt«, sagte Marissa, »und ich die Sache mit Robert in Ordnung bringen kann, werde ich es noch ein paarmal versuchen. Aber insgesamt nicht öfter als achtmal. So oder so bin ich also spätestens in einem halben Jahr wieder voll bei der Arbeit.«
»Wir wünschen Ihnen alles Gute«, sagte Dr. Hauser. »Leider müssen wir Ihr Gehalt aber nochmals herabsetzen. Das ändert sich natürlich sofort, wenn Sie wieder voll zu den Einkünften der Gemeinschaft beitragen.«
»Das verstehe ich«, sagte Marissa, »und ich danke Ihnen, daß Sie so viel Geduld mit mir haben.«
In ihrem Sprechzimmer zog Marissa die Karte hervor, die Linda ihr gegeben hatte, und wählte die Telefonnummer. Es meldete sich eine freundlich klingende Frauenstimme.
»Ist dort Resolve?« fragte Marissa.
»Ja, klar«, sagte die Frau. »Ich bin Susan Walker. Was kann ich für Sie tun?«
»Man hat mir nahegelegt, bei Ihnen anzurufen«, sagte Marissa. »Ich habe mit der IVF-Station in der Frauenklinik zu tun.«
»Personal oder Patientin?« fragte Susan.
»Patientin«, sagte Marissa. »Ich bin im vierten Zyklus.«
»Möchten Sie und Ihr Mann an unserer nächsten Zusammenkunft teilnehmen?« erkundigte sich Susan.
Die Antwort war Marissa etwas peinlich: »Wahrscheinlich wird mein Mann nicht mitkommen wollen.«
»Das habe ich schon öfter gehört«, sagte Susan. »Es ist bei den meisten Paaren so. Die Ehemänner zieren sich gern. Aber wenn sie erst einmal dagewesen sind, ist die Mehrzahl ganz begeistert. So war es auch bei meinem Mann. Er wird gern bereit sein, ihren Mann anzurufen und mit ihm zu sprechen. Er kann sehr überzeugend wirken.«
»Das wäre, glaube ich, keine gute Idee«, sagte Marissa schnell. Sie konnte sich Roberts Reaktion auf den Anruf eines Fremden zugunsten einer Selbsthilfegruppe für unfruchtbare Paare lebhaft vorstellen.
»Ich rede selber mit ihm. Falls er aber doch nicht will, wäre es Ihnen dann peinlich, wenn ich allein käme?«
»Ach du lieber Himmel, nein!« erwiderte Susan. »Wir sehen Sie jederzeit liebend gern bei uns. Sie werden auch nicht die einzige sein.
Zu uns kommen mehrere Frauen, die gerade künstliche Befruchtung anstreben. Einige kommen ebenfalls solo.« Dann nannte sie Marissa Datum und Adresse und erklärte ihr den Weg dorthin.
Nach diesem Telefonat konnte Marissa sich nur wünschen, daß die Zusammenkunft genauso nutzbringend verlaufen würde wie ihre Konsultation bei Linda. Sie hatte zwar ihre Zweifel, war aber bereit, es zu versuchen, vor allem, weil Linda es ihr empfohlen hatte.
Marissa legte einen kurzen weißen Kittel an und begab sich zur ambulanten Abteilung, bemüht, sich das geringe Gehalt, das sie bekam, auch zu verdienen. Sie behandelte eine Reihe von Kindern mit laufenden Nasen, Mittelohrentzündungen und Halsschmerzen. Schließlich saß sie im Sprechzimmer mit einem acht Monate alten Säugling und seiner ziemlich interesselos wirkenden Mutter.
»Was fehlt ihm?« fragte sie, obwohl sie es auf den ersten Blick gesehen hatte. Das Kind hatte eine Anzahl von eiternden Wunden an den Armen und auf dem Rücken. Außerdem war es völlig verdreckt.
»Weiß’ nich«, sagte die Mutter, biß auf einen Kaugummi und sah sich im Zimmer um. »Der Kleine brüllt den ganzen Tag. Er hört überhaupt nicht auf.«
Marissa untersuchte die Eiterstellen und fragte: »Wann haben Sie das Kind zum letztenmal gebadet?« Ihre Diagnose lautete auf Ekzeme.
»Gestern«, sagte die Mutter.
»Erzählen Sie mir nicht solchen Quatsch!« sagte Marissa scharf.
»Das Kind ist seit einer Woche nicht gebadet worden, wenn überhaupt.«
»Kann sein, daß es schon ’n paar Tage her is’«, räumte die Mutter ein.
Marissa war blaß vor Zorn. Am liebsten hätte sie der Frau gesagt, daß sie nicht zur Mutter geeignet sei. Doch sie unterdrückte diese Bemerkung, verständigte durch den Summer eine Krankenschwester und bat sie, ins Sprechzimmer zu kommen.
»Was gibt’s?« fragte Amy Perkins.
Marissa brachte es nicht mehr über sich, die Mutter anzusehen. Sie zeigte nur in ihre Richtung und sagte: »Das Kind braucht ein ordent-
liches Bad. Außerdem muß ein
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