Marlene Suson 1
gar untypisch für ihn, so verantwortungslos zu handeln, wie er es heute getan hatte. Wenn er es recht bedachte, war eigentlich fast alles untypisch, was er im Zusammenhang mit Rachel getan hatte.
Das war ein Beweis dafür, in welcher Gefahr er schwebte, sich zu sehr an sie zu verlieren.
Und das wäre ein Fehler.
Ein verhängnisvoller Fehler. Wie hatte er nur so töricht sein können?
Wenn er sich nicht vorsah, würde er für diesen Fehler teuer be- zahlen müssen, wie schon einmal – mit einem gebrochenen Her-
zen. Er würde es nicht ertragen, diese Verzweiflung noch einmal durchleben zu müssen.
Und auch nicht die trostlose Einsamkeit und das demütigende Gefühl des Betrogenseins, das sich im nachhinein einstellen würde.
Cleo war schon die zweite schöne Frau gewesen, die ihn ver- raten hatte. Wie gut erinnerte er sich an die erste, an all die vie- len Male, da er als kleiner Junge auf der Treppe vor dem Portal gestanden und seine Mutter angefleht hatte, ihn mitzunehmen. Immer dann, wenn sie und Morgan, die beiden Menschen, die er auf der Welt am meisten liebte, wieder zu einem langen Besuch bei seinem Onkel aufgebrochen waren.
Doch ihre ungeduldige Antwort war immer dieselbe gewesen: „Nein, Jerome, du sollst mich doch nicht so plagen. Du mußt bei deinem Vater bleiben.‚
Mit Tränen in den Augen hatte er zugesehen, wie die Kutsche abfuhr. Dann war er mit schleppenden Schritten zurück in das große Haus geschlichen, das plötzlich so leer war.
Drinnen hatte sein strenger Vater ihn wegen seiner Schwäche gescholten. „Der künftige Duke of Westleigh darf keine Schwä- che zeigen, Jerome. Du enttäuschst mich zutiefst.‚
Als Jeromes Mutter und Bruder wieder einmal wochenlang fort waren, hatte der kleine Jerome Ferris kennengelernt, den Sohn des Stallmeisters auf Royal Elms. Die beiden Jungen hatten sich rasch angefreundet. Ferris war einer der wenigen Lichtblicke in Jeromes einsamer, trostloser Kindheit gewesen.
Rachels Schönheit und Lebhaftigkeit erinnerte ihn ein wenig an seine Mama. Würde sie ihn irgendwann auch verlassen, wie seine Mutter seinen Vater verlassen hatte? Oder würde sie ihn be- trügen, wie Cleo ihn betrogen hatte?
Jerome sagte sich immer wieder, daß Rachel anders sei, aber hatte er das damals nicht auch von Cleo geglaubt?
Er würde diesen Fehler nicht noch einmal machen. Es tat zu weh.
Er gab sich einen Ruck und stand auf. Er mußte die Kraft fin- den, der Verführung zu widerstehen, die Rachel für ihn bedeutete. Entschlossen kleidete er sich an und verließ das Schlafzimmer.
In der Halle traf er auf Mrs. Needham. Sie wirkte verdrossen, wie so oft in letzter Zeit.
„Ich habe das Schlafzimmer für Ihre Gnaden herrichten las- sen‚, sagte die Haushälterin.
Jerome hatte noch gar nicht an das andere Schlafzimmer ge- dacht. Er wollte seine Frau des Nachts bei sich haben. Es war kaum zu glauben, wie schnell er sich an die Wärme und das Be- hagen gewöhnt hatte, das ihre Nähe ihm vermittelte.
„Hätte man mich informiert, dann wäre bei Ihrer Ankunft al- les bereit gewesen‚, sagte Mrs. Needham vorwurfsvoll. „Soll ich jetzt ihre Sachen hinüberbringen lassen?‚
Alles in Jerome sträubte sich dagegen. Es war so schön, Rachel nachts im Arm zu halten.
Zum Kuckuck, war er denn schon völlig vernarrt in diese Frau? Im Geiste hörte er die Worte seines Vaters: Der Duke of Westleigh darf keine Schwäche zeigen.
Er mußte seine Gefühle für Rachel im Zaum halten. Sein Mund wurde zu einem schmalen Strich. „Ja, wenn sie aufgewacht ist.‚
Er mußte Distanz zu ihr halten.
Und Distanz halten war etwas, das er durch jahrelanges Üben bis zur Vollkommenheit beherrschte.
Rachel betrat die Halle in ihrem violetten Reitkleid. Sie hatte es in der Hoffnung angezogen, daß sie Jerome zu einem Ritt über die Ländereien bewegen könnte.
Sie war sehr enttäuscht gewesen, als sie beim Erwachen fest- stellte, daß er nicht mehr da war. Doch ihre Stimmung war gleich wieder gestiegen, als sie daran dachte, wie leidenschaftlich er sie geliebt hatte – und das mitten am Tage!
Mit langsamen, steifen Schritten kam Mrs. Needham auf sie zu. Rachel lächelte sie freundlich an, doch in dem mißmutigen Ge- sicht der Haushälterin regte sich kein Muskel. „Wenn Euer Gna- den jetzt ausreiten möchten, lasse ich die Mädchen Ihre Sachen in die Suite der Herzogin bringen.‚
„Was?“ Rachel war davon ausgegangen, daß sie auch weiter- hin Jeromes Schlafzimmer teilen würde, wie ihre
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