Marlene Suson 2
Stich lassen.
Wieder sprang Stephen in eine Droschke und gab dem Kut- scher Dentons Adresse in Piccadilly.
Als er dort ankam, mußte er feststellen, daß Tony nicht mehr da wohnte.
„Wo ist er denn?“ fragte er den Hauswirt.
„Irgendwo auf dem Land, wo seine Gläubiger ihn nicht fin- den“, sagte der Mann bitter. „Hat sich bei Nacht und Nebel davongemacht. Der Bursche schuldet mir noch die Miete für ein halbes Jahr.“
Denton hatte stets sehr aufwendig gelebt. Doch Stephen wäre nie auf die Idee gekommen, daß er in finanziellen Schwierigkei- ten sein könnte. „Haben Sie eine Ahnung, wo auf dem Land er sich aufhalten könnte?“
„Irgendwo im Norden, habe ich gehört. Angeblich versucht er dort, eine reiche Erbin zu angeln. Wird nicht lange dauern, bis er ihr Vermögen auch durchgebracht hat.“
Hoffentlich ist es nicht Rachel, dachte Stephen.
Sie verdiente einen besseren Mann als Denton. Stephen machte sich bittere Vorwürfe, weil er sie so allein und unbeschützt zurückgelassen hatte. Wie hatte er nur so verdammt verantwor- tungslos sein können!
Vielleicht, dachte er schuldbewußt, war alles, was mir zuge- stoßen ist, die Strafe für meine Pflichtvergessenheit.
Nachdem er sich von dem Wirt verabschiedet hatte, stand Stephen ratlos auf der Straße und überlegte, an wen er sich jetzt noch wenden konnte. Unglücklicherweise hielten sich alle seine Freunde um diese Jahreszeit auf ihren Landsitzen auf und nicht in London.
Wem durfte er überhaupt noch trauen? Was er brauchte, war ein unbestechlicher, absolut integrer Mann von einwandfreiem Ruf, der bezeugen würde, daß er der Earl of Arlington war.
Und da fiel ihm nur ein einziger Name ein – der Duke of Westleigh. Obwohl Stephen die eisige Arroganz des Herzogs auf den Tod nicht ausstehen konnte, würde doch niemand wagen, sein Wort in Frage zu stellen. Aber würde der Herzog überhaupt bereit sein, ihm zu helfen? Stephen wußte ja, daß Westleigh ihn verachtete. Wahrscheinlich lacht er mir ins Gesicht und erklärt, daß ich meine ganze Misere redlich verdient habe. Vielleicht habe ich das ja auch, aber Megan nicht.
Stephen wollte gerade wieder eine Droschke heranwinken, entschied sich dann jedoch dagegen. Seine letzten Geldreserven schwanden rapide dahin. Er mußte eisern sparen. Er hatte dar- auf gebaut, sich sofort mit Geld versorgen zu können, sobald er London erreichte. Nun hatte er keine Ahnung, wann er dazu in der Lage sein würde.
Er hatte sich seine Heimkehr so ganz anders vorgestellt! Er machte sich zu Fuß auf den Weg und ging mit raschen Schrit- ten durch die feuchte Dämmerung. Die Kälte drang ihm durch die Kleider, und er wünschte, er hätte einen wärmeren Mantel. Stephen war ganz bestürzt, wie grau sein geliebtes, strahlendes London plötzlich wirkte und wie schäbig die Häuser waren. Das heisere Geschrei der Straßenverkäufer, die Flüche der Kutscher, das Rattern der Räder auf den Pflastersteinen – es war kaum auszuhalten. Angewidert rümpfte er die Nase über den Gestank der Pferdeäpfel, des Kohlenrauchs und der ranzigen Schwaden, die aus den Garküchen quollen.
Nie zuvor war ihm aufgefallen, wie überfüllt die Stadt war.
Ihre Bewohner waren viel ruppiger, als er sie in Erinnerung hatte. Pausenlos wurde er angerempelt und geschubst. Er konnte sich nicht erinnern, das je zuvor erlebt zu haben.
Ein reich gekleideter Mann mit Perücke, dessen vornehme Erscheinung ihn als Aristokraten auswies, kam ihm entgegen. Die Menge fuhr auseinander und machte ihm beflissen Platz. In diesem Augenblick begriff Stephen, daß es nicht die Stadt war, die sich verändert hatte, sondern er selbst. Nun, da sein Äußeres ihn nicht mehr auf einen Mann von Stand hinwies, beachtete ihn kein Mensch.
Er war einer von ihnen, ein Niemand.
Früher war er so gut wie nie zu Fuß gegangen. Er war in sei- ner eleganten Kutsche gefahren, die ihn vor dem Pöbel schützte. Nun, da er zu Fuß durch die gleichen Straßen ging, in deren Rinnsteinen sich Abfälle häuften, bekam er ein ganz neues Bild von London. Es war nicht mehr die heitere, glanzvolle Metro- pole aus seiner Erinnerung, sondern ein schäbiger, lärmender, stinkender Moloch. Kein Wunder, daß Megan so entsetzt war.
Plötzlich konnte Stephen es kaum noch erwarten, London den Rücken zu kehren. Er wollte hinaus aufs Land und die klare, saubere Luft von Wingate Hall atmen.
Und seine Schwester wiedersehen. Er wollte herausfinden, was man ihm angetan hatte.
Rachel würde ihm alles
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