Marlene Suson 2
Schiffe gar nicht mehr ausmachen.
London war die häßlichste Stadt, die Meg je gesehen hatte. Zu- gegeben, sie kannte nicht viele Städte, doch sie war schon jetzt krank vor Heimweh nach der sauberen, frischen Luft, der fried- lichen Stille und der üppigen Natur Virginias. Der Gedanke, daß sie nun sowohl von ihrer Heimat als auch von Josh durch den end- losen Ozean getrennt war, trieb ihr die Tränen der Verzweiflung in die Augen.
Und noch ein anderer Gedanke ließ sie nicht los. Was, wenn Stephen nicht der war, der zu sein er behauptete? Sie hatte ihre Zweifel beiseite geschoben und war ihm gefolgt. Nun war der Augenblick der Wahrheit gekommen, und die Angst drückte ihr fast das Herz ab.
Und doch hatte sie wegen dieser Angst ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber, denn er war während der ganzen Überfahrt so lieb und besorgt um sie gewesen. Er hatte ihren Kopf gehalten, wenn sie sich übergeben mußte, ihren Rücken massiert und sie in seinen Armen getröstet, wenn sie Angst hatte, mit dem Schiff unterzugehen.
„Du bist so blaß, Liebes“, sagte er beunruhigt. „Geht es dir immer noch schlecht?“
Ihre Beine fühlten sich an wie Pudding, und sie nickte. Er führte sie zu einer Bank, auf der sie sich dankbar niederließ.
„Warte hier auf mich.“
Sie nickte. Als er eine Viertelstunde später wiederkam, schob er sie zu einer Mietdroschke, die er besorgt hatte. Obwohl es drinnen nach Schimmel roch und die Ledersitze alt und ris- sig waren, war Meg doch dankbar, aus dem Gedränge und der feuchten Kälte zu kommen.
Als Stephen dem Kutscher die Adresse nannte, maß der Mann
ihn mit einem skeptischen Blick und fragte ihn, ob er sich auch nicht geirrt hätte.
„Natürlich nicht“, gab Stephen unwirsch zurück. „Weshalb fragen Sie?“
Abschätzend musterte der Kutscher Stephens Kleidung. „Leute wie Sie gehörn nich in die Gegend“, sagte er, drehte sich um und kletterte auf den Bock.
Als die Kutsche losratterte, fragte Meg: „Wohin fahren wir?“
„In mein Stadthaus.“
Sie kamen durch Straßen, die er offensichtlich kannte, und der fast verklärte Ausdruck auf seinem Gesicht verriet ihr, wie er sich freute, wieder in London zu sein. Meg konnte seine Be- geisterung beim besten Willen nicht teilen. Müde lehnte sie den Kopf zurück und schloß die Augen. Sie wollte nichts mehr se- hen von dieser Stadt. Am liebsten hätte sie auch Ohren und Nase vor dem schrecklichen Lärm und dem üblen Gestank ver- schlossen.
Stephens überschwengliche Freude schwand dahin, als er sah, in welch jämmerlichem Zustand seine Frau war. Sie wirkte so blaß und schmal. Die Überfahrt hatte sie sehr mitgenommen. Trotzdem war sie ausgesprochen tapfer gewesen und hatte sich nie beklagt. Doch man konnte ihr ansehen, wie sehr sie litt.
Er würde sie für alles entschädigen. In ein paar Minuten wür- den sie sein elegantes Londoner Stadthaus erreichen. Vor dem Antritt seiner Europareise hatte er zwar den größten Teil der Dienerschaft entlassen, doch ein paar ausgesuchte Dienstboten sollten bleiben und das Haus für seine Rückkehr bereithalten.
Er nahm Megs Hand und drückte sie aufmunternd. „Sobald wir da sind, wird man dich in das bequemste Bett deines Lebens stecken, und die Köchin wird etwas zaubern, das dir Appetit macht.“
Seine Frau würde Augen machen, wenn sie sah, wie stattlich und prunkvoll sein Haus war. Vielleicht vergaß sie darüber die unerfreuliche Überfahrt.
Und es würde endlich all ihre Zweifel ausräumen.
Er freute sich schon auf Megans überraschtes Entzücken, wenn sie entdeckte, wie hoch und vorteilhaft sie geheiratet hatte. Er hatte ihr nämlich noch nicht verraten, welch exponierte Stellung sie als seine Gemahlin in der Gesellschaft einnehmen würde. Das
sollte ein Geheimnis bleiben, bis er wieder in all seine Rechte eingesetzt war. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, schon früher mit ihr darüber zu sprechen, denn sie hätte ihm nicht geglaubt und es hätte nur ihre Zweifel genährt.
Jetzt würde sie selbst sehen, wie falsch sie ihn eingeschätzt hatte.
Meg öffnete die Augen. „Wie lange müssen wir in London bleiben?“
„Mindestens zwei Wochen.“
Ihr Gesicht schien zusammenzuschrumpfen. Ganz offensicht- lich gefiel ihr die Stadt nicht, in der Stephen sich so wohl fühlte. Um ihre Lebensgeister ein wenig zu wecken, sagte er: „Wir brau- chen etwas Zeit, um dir eine passende Garderobe zu beschaffen.“ Seiner Erfahrung nach konnte nichts die Laune einer Frau besser heben
Weitere Kostenlose Bücher