Marlene Suson 2
Rachel die schönste Frau seiner Bekanntschaft war.
Er hatte viele Affären gehabt und hielt sich für einen abge- klärten Mann von Welt. Doch wenn er ehrlich war, der Kuß vorhin war ihm genauso durch Mark und Bein gegangen wie Me- gan. Dieser kurze Augenblick dort unten beim Wasserfall war so süß und erregend gewesen, wie Stephen es noch nie erlebt hatte.
Megan war so gut zu ihm gewesen. Sie hatte ihn bei sich auf- genommen, obwohl alles dagegen sprach. Welche andere Frau hätte in dieser Situation ebenso gehandelt? Wie konnte er ihre Güte damit vergelten, daß er sie in dieser verzweifelten Lage sitzenließ?
Zum wiederholtenmal verfluchte er Quentin, weil er sie und Josh verlassen hatte. Angewidert verzog Stephen den Mund. Wie konnte ein Mann seiner Schwester gegenüber so herzlos sein? Wie brachte er es nur fertig, ihr all die Pflichten aufzuladen, die ihm als ältestem Sohn und Familienoberhaupt oblagen?
Ja, wie nur? meldete sich eine lästige Stimme in seinem Unterbewußtsein. Und was war mit Rachel?
Stephen erstarrte. Hatte er nicht selbst seiner Schwester die Leitung seines Landgutes aufgeladen, damit er sich in London und auf dem Festland amüsieren konnte?
Doch das war etwas ganz anderes, beschwichtigte er sein
Gewissen sofort. Er hatte sie in Wohlstand und Sicherheit zu- rückgelassen, umgeben von Dienern und Pächtern, die ihr treu ergeben waren. Er hatte sie nicht der Mühsal und den Gefahren einer feindlichen Umwelt ausgesetzt.
Aber du hast zugelassen, daß sie deine Arbeit auf Wingate Hall verrichtet. Ist das nicht dasselbe?
Natürlich nicht. Rachel war mit Leib und Seele Gutsherrin gewesen, und das mit ausgezeichnetem Erfolg. Stephen war sehr stolz auf die Fähigkeiten seiner jüngeren Schwester gewesen. Sie hatte ihre Sache viel besser gemacht, als er es je gekonnt hätte. Das hatte er auch ohne Zögern zugegeben.
Ebenso wie Megan die Farm zweifellos viel besser bewirtschaf- tete, als Quentin es vermocht hätte.
Doch das war keine Entschuldigung dafür, daß Quentin sie verlassen hatte, genausowenig wie Stephen seine Verantwortung Rachel aufbürden durfte, um seinem Vergnügen in London zu frönen.
Hätte er doch damals lieber auf den Duke of Westleigh gehört, anstatt dem schlechten Beispiel Anthony Dentons zu folgen, der als der erfolgreichste Frauenheld Londons galt. Ein paar Jahre älter als Stephen, war Anthony Denton Anführer einer exklusi- ven, von vielen beneideten Gruppe junger Aristokraten, die nur auf ihr Vergnügen aus waren.
Es hatte Stephen geschmeichelt, als man ihn in diesem um- schwärmten Zirkel aufnahm. Seine Mitglieder befaßten sich ausschließlich damit, ihren zweifelhaften Vergnügungen nach- zugehen, und machten sich über jeden lustig, der das Leben und seine Aufgaben ernst nahm.
Jetzt fragte Stephen sich, wieso er nicht damals schon durch- schaut hatte, wie leer und nichtig das alles war.
Vor allem seine eigene Lebenseinstellung.
Westleigh hatte seinerzeit versucht, ihm die Augen zu öffnen. Noch heute hatte er die verächtlichen Worte des Herzogs im Ohr: Ihr Problem, Arlington, liegt darin, daß Sie nur an sich selbst und Ihre eigene Zerstreuung denken.
Stephen hatte Westleigh für diese offenen Wort gehaßt, doch jetzt mußte er sich eingestehen, daß der Herzog recht gehabt hatte.
Was, wenn Rachel auf Wingate Hall Schwierigkeiten bekam? Wer würde ihr dann helfen? George war in Amerika. Blieb nur
noch ihr Onkel Alfred, doch der war ein alter, seniler Narr, von dem Rachel mit Sicherheit keine Hilfe erwarten konnte.
Sie war diesem vertrottelten Onkel in jeder Hinsicht über- legen. Kurz vor Stephens Abreise von Wingate Hall hatte sein Onkel erneut bewiesen, was für ein Esel er war, indem er Sir John Cresswells ehrgeizige, liederliche Witwe heiratete. Verge- bens hatte Stephen versucht, dem Onkel diese Heirat auszureden. Jeder außer Alfred – dreißig Jahre älter als seine Braut – wußte, daß sie ihn nur nahm, um in die Wingate-Familie einzuheiraten.
Nein, Onkel Alfred wäre zu nichts nütze, wenn Rachel auf Wingate Hall Probleme bekam. Stephen seufzte tief auf. Zu spät erkannte er, was für ein Fehler es gewesen war, galanten Abenteuern nachzujagen, während seine Schwester die ganze Verantwortung für seinen Besitz trug.
Und ein noch größerer Fehler wäre es, Megan jetzt zu verlassen, da sie seine Hilfe so verzweifelt brauchte. Nach allem, was sie für ihn getan hatte, war er es ihr schuldig hierzubleiben. Auch wenn er nicht so tief in
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