Marlene Suson 2
sogar ein bißchen ähnlich.“
Das nahm Reif offensichtlich den Wind aus den Segeln, doch nur für einen Augenblick. „Weshalb sollte ein Mann, dessen Fa- milie genug Geld hat, um seinem Bruder ein Offizierspatent zu kaufen, nach Amerika kommen, um sich hier im Grenzland müh- selig durchzuschlagen? Falls er überhaupt nach Amerika käme, könnte er sich doch eine ganze Plantage kaufen.“
An den Gesichtern der Leute erkannte Meg, daß sie dieses Argument für stichhaltig hielten.
Reif schien es auch zu spüren, denn er hakte sofort nach. „Er- klär uns doch mal, weshalb du nach Amerika gekommen bist, Gunnell, oder wie du dich auch immer nennst.“
„Mein Name ist Stephen Wingate. Ich hatte eine Pechsträhne und habe mein Vermögen in England verloren. Nach Amerika bin ich gekommen, um mir wieder etwas aufzubauen.“
Mit sinkendem Herzen hörte Meg zu, wie Stephen in aller Ruhe eine Erklärung vorbrachte, die so ganz anders klang als die, die er ihr gegeben hatte. Er erwähnte weder seine große Farm in Yorkshire noch sein Vermögen. Es war auch keine Rede davon, daß er in Dover überfallen und auf ein Schiff gepreßt wurde.
„Nach meiner Landung in Baltimore bin ich auf den Docks überfallen und völlig ausgeraubt worden.“
Dabei hatte er behauptet, von einer Fregatte gesprungen und an Land geschwommen zu sein.
„Ich hörte, daß man hier im Grenzgebiet Land bekommen kann“, fuhr Stephen fort. „Deshalb kam ich her, um mich mal umzusehen.“
Meg hätte ihm geglaubt, wenn er ihr nicht vorher eine ganz andere Geschichte erzählt hätte. Es war fast unheimlich, wie überzeugend er wirkte. Dieser Mann war in der Lage, den Leuten einzureden, daß die Sonne am Abend aufging.
Oder einer dummen Frau vorzumachen, daß er sie liebte.
„Billy Gunnell hat schon immer behauptet, jemand anderer zu sein“, sagte Reif höhnisch. „Als Mr. Flynt ihn kaufte, nannte er sich Arlington.“
Meg erstarrte. Ich bin Arlington. Ihr müßt mir glauben! Wer außer Stephen konnte Flynt gegenüber eine solche Behauptung aufgestellt haben? Niemand.
In Meg brach eine Welt zusammen. War an dem, was ihr Mann gesagt hatte, auch nur ein wahres Wort? Sie wollte nicht glauben, daß er ein Schwerverbrecher war, doch ihr Vertrauen in ihn war restlos dahin.
„Er hat Mr. Flynt vorgemacht, daß er ein reicher, mächtiger Mann in England wäre und daß er ihn fürstlich belohnen würde, wenn er ihm eine Schiffspassage bezahlte. Dieser Mann hier lügt das Blaue vom Himmel, um zu kriegen, was er will.“
Hatte Stephen das auch bei ihr getan? In Megs Kopf drehte sich
alles. So viel von dem, was Reif angeführt hatte, traf auf Stephen zu. War er am Ende wirklich der Mann, den der Sklavenjäger suchte?
„Dieser Kerl hier hat ein vierzehnjähriges Mädchen vor den Augen ihrer Familie vergewaltigt und die Mutter getötet, als sie versuchte, ihre Tochter zu beschützen“, fuhr Reif mit schneiden- der Stimme fort. „Das ist nur eins seiner Verbrechen. Die anderen sind so abstoßend, scheußlich und abartig, daß ich sie vor den Ohren der anwesenden Damen gar nicht beschreiben kann. Wollt ihr so einen Mann in eurer Mitte haben? Dann wären eure Frauen und Töchter ihres Lebens nicht mehr sicher.“
Meg glaubte, sich übergeben zu müssen. Hatte sie ein Mon- ster geheiratet? War sie so blind gewesen? Sie fühlte sich wie vernichtet.
„Ich sage euch, dieser Mann ist Billy Gunnell, und ich nehme ihn jetzt mit zu seinem rechtmäßigen Eigentümer.“
Reif griff nach seinem Gewehr, das quer vor ihm im Sattel lag. Doch mit einer blitzschnellen Bewegung, die man einem Mann seiner Größe gar nicht zugetraut hätte, riß Wilhelm ihm die Waffe aus den Händen. „Sie bringen Mister Wingate nirgendwo hin.“
Ames nickte beifällig. „Wenn dieser Mann Flynts entflohener Sträfling ist, wie Sie behaupten, dann soll er selbst kommen und ihn holen.“
Meg erkannte die Angst in Reifs Augen, als er sich – nun ohne seine Waffe – einer Gruppe eindeutig feindseliger Männer gegenübersah.
„Schätze, dieser Flynt wird sich das reiflich überlegen“, spottete Wilhelm. „Und was Sie betrifft, Sie haben unsere Gastfreundschaft schon über die Maßen strapaziert.“
„Verschwinden Sie lieber, solange Sie noch können“, meinte Ames mit einem vielsagenden Blick.
Reif folgte seinem Rat und gab seinem Pferd die Sporen. Über die Schulter rief er zurück: „Ich komme mit Mr. Flynt wieder. Er wird sich den Vogel schon holen.“
Die Siedler
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